Utopie / Dystopie

Die Ankunft der schwachen Impulse

54:50 Minuten
Surreales Gemälde mit drei Aliens und Ufos im Hintergrund.
Ufos, Foucault und Andrei Tarkowskis "verbotene Zone" gleichberechtigt neben- und übereinander - eine Soundart über Utopien und Dystopien und Heterotopien. © imago images / StockTrek Images / Bruce Rolff
Von 48nord · 07.06.2024
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Klang braucht Raum, um sich zu entfalten. Das Künstlerkollektiv 48nord startet eine akustische Reflexion über die realen und imaginären Resonanzräume unserer Gesellschaft: Utopien, Dystopien, Heterotopien.
Während im Hintergrund die ersten Ufos landen, betreten wir Michel Foucaults Theoriegebäude und flanieren durch Andrei Tarkowskis „verbotene Zone“. Im Zentrum wabert die dialektische Verschränkung von Innen und Außen: Klangzustände im Neben- und Übereinander. Ausklingen. Einschwingen.
„Das ist der stillste Platz der Welt. Sie werden es noch selber sehen. Hier ist es so schön. Hier, hier ist ja niemand.“ (Arkadi und Boris Strugazki).

Über Konzept und Realisation von „Die Ankunft der schwachen Impulse“

1980 verfilmte der russische Regisseur Andrei Tarkowski unter dem Titel „Stalker“ den Roman „Picknick am Wegesrand“ der Gebrüder Strugazki als eine „Reise ins Innere der Seele“. „Stalker“ ist ein geheimnisvoller Führer durch eine verbotene Zone, in der er Sinnsuchende zu einem mehr oder weniger imaginären Raum der Erkenntnis geleitet. Das Wort „stalk“ bedeutet soviel wie heranschleichen, verweist also auf eine Bewegung, die sich als eine äußerst vorsichtige und leise Annäherung beschreiben lässt. Diese Bewegung ist für die Gestaltung des Hörstücks „Die Ankunft der schwachen Impulse“ wesentlich.
Es werden in vorsichtiger Annäherung Räume erschlossen, geöffnet und miteinander verschmolzen: Räume der Öffentlichkeit, Räume des Persönlichen, fiktionale Räume, Räume der Wissenschaft, künstliche Räume. Dabei ist es, dem Bild der vorsichtigen Annäherung folgend, vor allem der Topos der Stille, der zur Entfaltung kommt.
Auskomponierte Ein- bzw. Ausschwingvorgänge werden maßgebliche musikalisch-klangliche Gestaltungselemente. Überblendungen zu Field-Recordings, O-Tönen und Textfragmenten verwischen akustische und inhaltliche Raumgrenzen. Es begegnen Prozesse freier Klangentfaltung einer strengen Strukturierung, die aus der sogenannten „Arecibo-Botschaft“ abgeleitet ist: Diese durchaus nicht unumstrittene „Botschaft“ wurde 1974 vom Arecibo-Observatory (Puerto Rico) aus abgesetzt, um mögliche außerirdische Intelligenzformen auf die Erde aufmerksam zu machen und ihnen Informationen über die Biologie des Menschen, seine Lebensweise und die irdische Herkunft des Signals zu vermitteln. Die Nachricht besteht aus 23x73 Bit, die als Matrix dargestellt eine Schwarzweiß-Grafik ergeben. Dieses Frameset der Multiplikation beider Primzahlen (23x73=1679 Bit) bildet die formale Grundlage für das Stück.
Sein Text besteht aus Fragmenten aus dem Drehbuch „Stalker“ von Tarkowski, dem Science-Roman „Picknick am Wegesrand“ von Arkadi und Boris Strugazki, dem Text „Andere Räume“ von Michel Foucault, dem literarischen Essay „Größerer Versuch über den Schmutz“ von Christian Enzensberger, sowie aus wissenschaftlichen Texten, die punktuell eingestreut sind. Hinzu kommen auf der Wortebene noch O-Töne, die von außerirdischem Leben und UFO-Sichtungen handeln.
Das Wort öffnet so „Inhaltsräume“, die auf utopische, aber in ihrem Sehnsuchtspotenzial gleichermaßen auch weltliche Fernen verweisen. Da diese Räume gleichberechtigt sind, kann es keinen Handlungsverlauf, keine Richtung geben – aber eben auch keine Botschaft. Das entspricht auch dem heterotopischen, vielfach verzweigten Klang des Stückes. Es ist somit eher ein akustischer Zustand, eine in sich kreisende Sprach-Klang-Gestalt, in der diese verschiedenen Räume und Bezüge gleichwertig aufgehoben sind. So entfaltet sich ein Klangkontinuum, das durchaus im Cageschen Sinne von einer Stille gekennzeichnet ist, die keineswegs die Abwesenheit von Klängen bedeutet.

Die Ankunft der schwachen Impulse
Von 48nord
Mit: Henriette Schmidt und Thomas Dehler
Produktion: DKultur 2014
Länge: 52'00
Eine Wiederholung vom 04.12.2015

48nord ist ein Komponistenkollektiv, gegründet 1998. Seit dem Tod von Bassist und Multitalent Siegfried Rössert (1955–2020) wird das Musikprojekt als Duo von den Experimentalmusikern Ulrich Müller (Gitarre) und Patrick Schimanski (Schlagzeug) fortgeführt. Die Einflüsse der Gruppe speisen sich aus Soundart, Neuer Musik, Musique Concrète, Ambient und Industrial. Zuletzt für Deutschlandfunk Kultur: „G-LOC“ (2020).

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