Hörspiel über den Mauerfall in der Provinz

Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle

Am Grenzübergang Helmstedt-Marienborn werden am 10.11.1989 DDR-Bürger von zahlreichen Menschen begrüßt.
Am Grenzübergang Helmstedt-Marienborn werden am 10.11.1989 DDR-Bürger von zahlreichen Menschen begrüßt. © picture alliance / ZB / Bernd von Jutrczenka/dpa
Von Thilo Reffert · 10.11.2022
• O-Ton-Hörspiel • Annemarie und Juliane sind die ersten Ostdeutschen, die 1989 nach der „Schabowski-Regel“ aus der DDR ausreisen. Und sie sind auch die ersten, die wieder einreisen. Erinnerung an den Mauerfall abseits der ikonischen Bilder aus Berlin.
Annemarie sieht am 9. November 1989 die Abendnachrichten. Es sind die Nachrichten, die an diesem Abend ganz Deutschland bewegen. Aber nicht ganz Deutschland bewegt sich. Annemarie jedoch, 46 Jahre alt, Narkoseärztin aus Magdeburg, tauscht ihren Bereitschaftsdienst und fährt zusammen mit ihrer Tochter Juliane, 16, los. Ihr Mann bleibt zu Hause.
Sie fahren 60 Kilometer über die Autobahn zum Grenzübergang Marienborn, und nach einigen Diskussionen mit verschiedenen Grenzern dürfen Annemarie und ihre Tochter passieren. Es ist 21.15 Uhr – sie sind damit die ersten Ostdeutschen, die nach der neuen „Schabowski-Regel“ aus der DDR ausreisen. Doch im westdeutschen Helmstedt sind, wie immer um halb zehn abends, die Bürgersteige hochgeklappt. So sind sie auch die ersten, die wieder einreisen. Erst als die beiden längst wieder zu Hause sind, geht auch an der Grenze bei Marienborn der „Wahnsinn“ los. Berichtet wird in dieser Nacht vor allem aus Berlin, es sind diese Bilder, die bis heute unsere Vorstellungen vom 9. November prägen. Das Hörstück verfolgt hingegen die Spuren jenseits der Hauptstadt: die erste Autofahrt durch den Eisernen Vorhang in Sachsen-Anhalt – in einem Auto der Marke Wartburg, das „die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle“ bietet, wie eine Werbebroschüre formuliert.
Das Hörspiel wurde mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden und dem ARD-Hörspielpreis 2010 ausgezeichnet und war Hörspiel des Monats November 2009.
Begründung der Jury:
"'Wahnsinn!' war eine der Lieblingsvokabeln der Deutschen in jenem November 1989, als ohne Vorwarnung plötzlich die Mauer fiel. Was heißt hier ‚fiel’: Sie wurde einfach überrannt von DDR-Bürgern, nachdem Politbüro-Mitglied Günter Schabowski am 9. November mitgeteilt hatte, dass DDR-Bürger 'Privatreisen nach dem Ausland ohne Vorliegen von Voraussetzungen' beantragen können. Was es für den Einzelnen bedeutete, an jenem Abend zur Grenze zu gehen oder zu fahren, welche Zweifel diejenigen begleiteten, die sich aufmachten zum Grenzübergang, erzählt Thilo Reffert in seinem O-Ton-Hörspiel 'Die Sicherheit einer Fahrgastzelle' am Beispiel seiner eigenen Familie.
Mutter Annemarie und Schwester Juliane setzten sich am 9. November 1989 abends kurz nach 20 Uhr in Magdeburg in den damals noch ziemlich neuen Wartburg (die 'Fahrgastzelle') und fuhren Richtung Marienborn, um auszuprobieren, ob man sie tatsächlich in den Westen lassen würde. In Helmstedt wurden sie empfangen von Scheinwerfern und West-Journalisten, die bereits sehnsüchtig auf Ostdeutsche warteten. Von diesem Moment, in dem Geschichte im Kleinen zur Weltgeschichte wird, berichtet Reffert in seinem O-Ton-Hörspiel. Die Erzählung von Mutter und Schwester hat er kunstvoll eingebettet in O-Töne aus Nachrichtensendungen und vor allem auch aus der legendären Bundestagssitzung am 9. November 1989 im Bonner Wasserwerk, die gegen 21.20 Uhr, just in dem Moment, als Mutter und Schwester die Grenze überfuhren, endlich abgebrochen wurde.
Refferts Hörspiel macht nach all den vielen Gedenksendungen noch einmal deutlich, was für einen großen Schritt manche DDR-Bürger damals wagten und wie sie mit diesem Schritt Geschichte machten. Er fährt gemeinsam mit Mutter und Schwester den Weg 20 Jahre danach noch einmal nach und erzählt, wie man davon abends bei einem guten Wein den eigenen Freunden erzählen würde: sympathisch, ohne jedes Pathos und mit leichter Ironie."

Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle
Der Mauerfall von Marienborn   
Von Thilo Reffert
Regie: Stefan Kanis
Mit: Matthias Matschke, Juergen Schulz sowie Annemarie Reffert, Juliane Reffert und Michael Reffert
Komposition: Cornelia Friederike Müller
Ton: Holger König

Produktion: MDR 2009
Länge: 53'02

Thilo Reffert, geboren 1970 in Magdeburg, studierte Theaterwissenschaften in Berlin. Er schreibt Theaterstücke, Hörspiele und Romane. Seine Hörspiele wurden unter anderem mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden, dem ARD-Hörspielpreis und dem Deutschen Kinderhörspielpreis ausgezeichnet. Thilo Reffert lebt bei Berlin. Zuletzt: „Herr der Lügen“ (Deutschlandfunk Kultur 2021).


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