Hörspielpreis der Kriegsblinden 2019

Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen

54:38 Minuten
Copyright liegt bei Susann Maria Hempel. Bildtitel: Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen; Zeichnung Hirsch
Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen; Zeichnung Hirsch © rbb KulturRadio/Susann Maria Hempel
Von Susann Maria Hempel · 21.07.2022
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Monolog über Erlebnisfragmente aus der untergegangenen DDR und über ein „Ich“, das ständig unterzugehen droht. Ein musikalisches Hörstück, das die Intimität der Stimme mit hypnotischer Intensität inszeniert.
Das Hörstück von Susann Maria Hempel basiert auf Gesprächen mit einem ehemaligen DDR-Häftling, der im Gefängnis einen schweren Schock mit darauffolgender Amnesie erlitt. Als vermeintlichem Republikflüchtling sei ihm ein „Grenzproblem“ übergestülpt worden, das nicht seins war. Und dann erlitt er eine Grenzerfahrung ganz anderer Art: Im Gefängnis sei die Seele aus ihm „rausgemacht“ worden, sagt er. Und sie ist bis heute nicht heimgekehrt in ihr Gefäß. Er denkt, seine Seele sei dennoch gut aufgehoben – dort nämlich, wo ihr immer am wohlsten war: im Wald.
Als sein ältester Freund stirbt, beginnt der Häftling, der Autorin von seinem Leben zu erzählen. Sie wird auf die Verbundenheit aufmerksam, die beide zum Wald hatten: ein ganz eigenes mythisches Verhältnis, das durch die Gespräche über den Tod des Freundes wieder lebendig wird. Und in gewisser Weise tritt die Autorin das Erbe von deren Freundschaft an. Ein zartes Hörstück mit elektronisch verfremdeten Adaptionen von Schumanns Eichendorff- und Heine-Vertonungen über ein vertrautes Gespräch und eine fragile Innenwelt.
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Jurybegründung der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zur Auszeichnung als Hörspiel des Jahres 2018:
„Performativ erzählend, zeichnet Hempel ihre Gespräche mit einem durch seine Haft in der ehemaligen DDR schwer traumatisierten Menschen nach: Der Schock der unrechtmäßigen Inhaftierung selbst als vermeintlicher Republikflüchtling, aber auch die Misshandlung durch Mitgefangene, haben ihn so weit aus der Bahn geworfen, dass ihm nicht mehr gelingt, seinen Alltag zu organisieren, wichtige Entscheidungen zu fällen, sich einer Fremdbestimmung zu widersetzen, oder auch nur diese Unfähigkeit anderen gegenüber zu verbalisieren – mit Ausnahme seiner Gesprächspartnerin:
‚Danke Susann. Danke, dass ich darüber reden konnte jetze‘: Mit diesen Worten, dringlich gesprochen und in thüringischer Sprachfärbung, beginnt das Hörstück. ‚Das konnt’ ich jetzt wirklich bloß mit dir.‘ Hempel lässt uns die große Intimität dieser Unterhaltung miterleben, ohne ihre Vertraulichkeit zu verraten. Es geht um die Auflösung des Ich und den Versuch seiner Rekonstruktion: ‚Ich hab’ keine Erinnerung mehr an mich. Wenn ich mich aber unterhalt’, jetzt so mit dir jetze, dann kann ich’s geistig zurückholen.‘
Der Weg dorthin führt – es ist eine deutsche Geschichte – in den Wald der Kindheit, eine Art Privatmythos, den sich der Erzähler mit seinem Freund geschaffen hat, dessen kürzlicher Tod als Auslöser des Bekenntnisses angedeutet wird. Durch kompositorisch reduzierte elektronisch entfremdete hochromantische Liedsätze, Schumanns Eichendorff- und Heine-Vertonungen, durchbrochen von digitalem Vogelgezwitscher, Rotkehlchen und Zilpzalp, erschafft Hempel in und um diese Erzählung eine Atmosphäre, in der das, was wir Seele nennen, nahezu greifbar, ihre Verletzungen erfahrbar, und die Metaphern, die ihrer Beschreibung dienen sollen, wirklich werden: Erfahrbar nur durch den intimen Sinn des Gehörs, schrecklich und schön.“

Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen
Oder: Unser ist des heilgen Waldes Dunkel
Von Susann Maria Hempel
Komposition und Regie: die Autorin
Mit: Susann Maria Hempel
Ton: Nikolaus Löwe
Produktion: RBB 2018
Länge: 54'26

Susann Maria Hempel, geboren 1983 im thüringischen Greiz, brach mit 16 Jahren die Schule ab und wirkte als Musikerin, Schauspielerin und künstlerische Mitarbeiterin im Performance- und Künstlerkollektiv „Theaterhaus Weimar“. Studium an der Bauhaus-Universität Weimar mit Schwerpunkt Kurz- und Experimentalfilm. Ihre Animationsfilme gewannen unter anderem den Deutschen Kurzfilmpreis (2014) und den Grand Prix des Clermont-Ferrand-Kurzfilmfestivals (2015). „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ ist ihr zweites Hörspiel und wurde zum Hörspiel des Jahres 2018 gewählt.

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