Hörspiel: „Bystander“-Effekt

RUHE 1

Blick in den Gastraum eines Cafés. Am Tisch sitzt eine junge, blonde Frau mit dem Rücken zur Kamera.
Ein Vorfall draußen auf der Straße - Zivilcourage und Ignoranz? Beides ist möglich. © Unsplash / Laura Adai
Von Paul Plamper · 02.03.2023
Schauplatz: ein Restaurant. Plötzlich lässt ein Vorfall draußen auf der Straße die Gespräche an den Tischen verebben. Man müsste einschreiten, helfen. Ein Moment von Ruhe. Jetzt ist beides möglich: Zivilcourage und Ignoranz.
Dem Hörspiel liegt eine begehbare Installation im Raum zugrunde: Ein Saal mit leeren Tischen und Stühlen. Aus Lautsprechern erklingt die Geräuschkulisse eines voll besetzten Restaurants. Der Besucher kann dieses „Audio-Lokal“ betreten, eintauchen in ein Geflecht von Geschichten. Er kann sich einen Weg durch die Tische suchen, Platz nehmen und die einzelnen Unterhaltungen belauschen. Dann unterbricht ein Ereignis die Szene. Es entsteht eine eigenartige Ruhe im Raum. Wird jemand aufstehen? Gilt für die Geschäftsleute am Tisch 4 immer noch „business as usual“? Werden sich Herr und Frau König von Tisch 7 beim Kellner beschweren? Kann sich der verklemmte Junggeselle am Nebentisch aus seiner Starre lösen? Paul Plamper untersucht mit seinem ersten „Hörspiel im Raum“ eine plötzlich entstandene Ruhe als Politikum. „RUHE 1“ seziert das komplexe Verhalten einer Gruppe durch konsequente Auffächerung in die verschiedenen Perspektiven und Haltungen, die einzelnen Bequemlichkeiten, Ängste, Selbstsüchte, Unaufmerksamkeiten und Mutanflüge. Aus dem scheinbaren Nebeneinander alltäglicher Restaurantgespräche wird in diesem multidimensionalen Hörspiel eine Gemeinschaft, die eine Entscheidung trifft. Die Toninstallation im Kölner Museum Ludwig wurde für die Hörspiel-Sendung um mehrere Ebenen erweitert, u.a. um dokumentarische Elemente zu den Themen Zivilcourage und Verantwortungsdiffusion, um Reaktionen und Beobachtungen, Nachbetrachtungen und Einzelperspektiven.
„RUHE 1“ geht auf einen Vorfall zurück, den der Autor selbst Anfang der 90er erlebt hat:
„Kurz nach der Wende gab es im Prenzlauer Berg erst wenige Telefonanschlüsse in den Wohnungen und wir sammelten uns alle immer in langen Schlangen vor den Telefonzellen. Ich stand in einer Schlange, als sich ein Mann und eine Frau näherten, die wild gestikulierten und ab und zu körperlich wurden – sich schubsten und wegstießen. Nach einer Weile war klar, die kennen und streiten sich.
Es war eine sehr intime Spannung zwischen den beiden und dementsprechend war es schwer einzuschätzen, ob sie sich nicht kollektiv gegen einen wenden, wenn man was sagt. Ich entschloss mich als einziger, wenigstens zu rufen und brachte aber gerade mal ein zu leises und wirkungsloses ‚He, hört auf ...‘ heraus. Plötzlich packte der Mann die Frau, knickte sie um wie ein Brett und zog sie rücklings in den nächsten Hauseingang.
Ich brauchte zwanzig Sekunden, bis ich mich aus der Schlange gelöst hatte und hinter den beiden her bin. Im Haus war absolute Ruhe und auch auf mein Klingeln an den Türen hin regte sich nichts. Nach einer Viertelstunde gab ich auf. Seitdem denke ich immer wieder mal daran.“
1964 im New Yorker Stadtteil Queens die 28-jährige Kitty Genovese im Hof ihres Wohnblocks umgebracht. Eine halbe Stunde lang beobachteten angeblich 38 Zuschauer tatenlos, wie der Mörder die Frau mehrfach attackierte. Der „Genovese-Mord“ erfuhr ein breites Medienecho und die Sozialpsychologie begann, die Phänomene der „Verantwortungsdiffusion“ und des passiven „Bystanders“ zu erforschen. Experimente ergaben: Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einschreitet oder hilft, sinkt erheblich, wenn die Person sich in einer Gruppe befindet. Wer alleine ist, fühlt sich verantwortlich und handelt eher.  
Paul Plamper: „In ‚RUHE 1’ geht es mir darum, den Bann zu ergründen, in den eine Gruppe wie meine Schlange damals verfallen kann. Die Ruhe in ‚RUHE 1’ ist für mich ein unbegrenzter Raum für Möglichkeiten. Gleichzeitig ist dieser kurze Moment der Ruhe der Minischauplatz des Dramas, dass diese Möglichkeiten nicht wahrgenommen werden. Es ist wie ein Kartenhaus. Die Leute im Café lehnen sich in ihrer Nicht-Reaktion aneinander an.“

RUHE 1
Von Paul Plamper
Regie: der Autor
Mit: Caroline Peters, Bastian Pastewka, Gisela Orth, Hans Klumpp, Sabine Mix, Holger Schulz, Oliver Borgis, Sebastian Alshut, Ayse Gül Var, Hanka Barelkowski, Antonio Ciervo, Timm Höller, Mehmet Kücük, Julie Gissler, Margarita Broich, Ute Kirchhelle, Ary Schwantes, Franz Broich-Wuttke, Gisa Holzhausen, Christian Wandinger, Martin Wuttke, Kasper König, Judith Engel, Andreas Schmidt, Fabian Hinrichs, Angelika Sautter, Günther Gerstner, Cristin König, Irm Hermann, Matthias Lilienthal, Matthias Matschke
Ton und Technik: Nils Kacirek, Roman Vehlken

Produktion: WDR/Museum Ludwig 2008
Länge: 49'27

Paul Plamper, 1972 in Ulm geboren, ist Hörspielmacher, Autor und Regisseur. Für sein Gesamtwerk erhielt er den Günter-Eich-Preis, für „Top Hit leicht gemacht“ (WDR 2002) und „Tacet“ (WDR/Deutschlandfunk 2010) den Prix Europa und für „Ruhe 1“ (WDR 2008) den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Seine Audioinstallationen arbeiten an den Schnittstellen zwischen Hörspiel, bildender Kunst und Theater. Zuletzt: „Dienstbare Geister“ auf der Ruhrtriennale und „Der Absprung“ am Residenzschloss Altenburg, ZKM Karlsruhe u.v.a.

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