Reihe: Wirklichkeit im Radio

Springtime it brings on the shearing

74:24 Minuten
Ein Landwirt schert ein Schaf.
Geräusche, Lieder, Beschreibungen beschwören ein Kindheitsbild der Autorin herauf: das der Schafscherer in Australien, einer verschworenen Männergesellschaft. © imago images / Westend61
Von Kaye Mortley · 28.09.2019
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Geräusche, Lieder, Beschreibungen beschwören ein Kindheitsbild der Autorin herauf: das der Schafscherer in Australien, einer verschworenen Männergesellschaft. Viele von ihnen stammen von englischen Strafgefangenen ab.
Schon lange hatte ich den Wunsch, das Scheren der Scherer mit dem Mikrophon aufzunehmen. Als Kind bin ich regelmäßig bei den Schafschurschuppen gewesen. Die Aufnahmen sind auf einer Farm der westlichen Tiefebene gemacht worden. "Springtime it brings on the shearing" ist durchaus eine Art Radio-Dokumentation, aber sie zeigt ihr Thema wie durch eine alte halbblinde Glasscheibe. Zeit, Raum und Erinnerung zusammengenommen verwischen das Bild. Die "Realität" ist immer gerade außerhalb des Brennpunktes." (Kaye Mortley)

Springtime it brings on the shearing
Von Kaye Mortley
Regie: Kaye Mortley
Mit: Christa Lorenz, Johanna Elbauer, Antje Primel, Klaus-Peter Grap, Heinz Rabe, Otto Sander
Ton: Günter Genz
Produktion: SFB/ABC 1987
Radiofassung: 54'08
Onlinefassung: 74'17

Den folgenden Essay finden Sie zusammen mit zahlreichen weiteren und vielen Extras auf dieser Webseite.
"Some people hated it. I mean really hated it." Das schrieb Kaye Mortley in einer Email, nachdem wir uns eine Stunde lang über ihr Stück "Springtime it brings on the shearing" unterhalten hatten. Ganz gut, daran erinnert zu werden, dass eine solche Auffassung von ‚Wirklichkeit im Radio‘ mindestens polarisierend sein kann. Es gibt ja auch einiges, was einem an diesem Stück wahlweise auffällt oder aufregt. Die gehauchten Stimmen. Die Langsamkeit. Die Wiederholungen. Das Gefühl des ziellosen Umherdriftens. Kaye Mortleys Stücke sind wie ein Trip in eine weite Ebene, in der Zeit und Schwerkraft zwischendurch ihren Dienst versagen. Besonders in diesem Stück, schon wegen seiner Länge. Und doch nennt es sich Feature. Und es hat sogar ein Thema, das einem auf den ersten Blick etwas entlegen vorkommt: Schafscherer in Australien.
Meine Erfahrung mit Kaye-Mortley-Stücken ist: es hilft, vorher ein bisschen was über sie zu wissen. Einen Kompass in die Hand gedrückt zu bekommen. Man hat dann eine kleine Sicherheit, und das erhöht die Bereitschaft, sich in ihren Hörwelten zu verlieren. Und "sie" meint hier: sie, Kaye Mortley und sie, die jeweiligen Stücke.
Zunächst Kaye Mortley: vor vielen Jahren aus Australien nach Paris eingewandert, steht sie wie keine andere für das Radiofeature als Kunstform. Sie ist eng verbunden mit dem Atelier de Création Radiophonique und dessen langjährigen Leiter René Farabet. In dieser extrem einflussreichen Sendung wurden Impulse der experimentellen französischen Literatur für die dokumentarische Radioform fruchtbar gemacht. Und das zog internationale Kreise. Kaye Mortley war mit ihren Stücken auf internationalen Kongressen und Wettbewerben präsent, und wahrscheinlich wurden ihre Features am häufigsten in anderen Sprachen adaptiert – in diesem Fall von Barbara Entrup, deren fein ziselierte akustische Übertragungen beim SFB Maßstäbe setzten.
Und bei Springtime hilft dieser Hintergrund:
Der Beruf des Schafscherers gilt als australische Institution. Immer im Frühling ziehen die Männer als Wanderarbeiter von Farm zu Farm, packen die Schafe der Reihe nach an der Gurgel und scheren ihnen die Wolle ab. Kaye Mortley hat eine persönliche Beziehung zu ihnen; als Kind verbrachte sie zusammen mit ihrem Vater Zeit auf dessen Farm, hockte sich in die Ecke und sah und hörte dem Treiben der Scherer zu. Als arrivierte Radiokünstlerin, die inzwischen in Paris lebte, besuchte Kaye Mortley zusammen mit einem Toningenieur wieder eine Farm und verbrachte dort zwei Wochen, während denen hunderte Stunden an Aufnahmen entstanden.
Das alles aber wird im Feature nicht gesagt, zumindest nicht so gebündelt. Keine Zusammenfassung, kein Balkonblick, kein An-die-Hand-nehmen. Und auch keine Handlung. "Nothing ever happens. It’s like being somewhere." Was aber passiert, sind die typischen akustischen Stilmittel, der ’signature sound‘, an dem man Kaye Mortley sofort erkennt.
Leitmotivische Sätze, die immer wieder kommen: "Es war immer Frühling".
Lange Geräuschaufnahmen, von denen manche dokumentarisch wirken und andere so, als sei der Aufnahmeort in Australien eigentlich ein Hörspielstudio. Beispiel sind die endlosen Schritte, die immer wieder zu hören sind.
Musik, die kommt und wieder verweht.
Beschwörung von Farbwerten ("Die Straße war blau, dann rot.")
Mehrschichtigkeit: zum Beispiel die erwähnten Schritte und gleichzeitig ein Lied der Schafscherer.
Extrem verknappte Übersetzungen mit starkem Verfemdungseffekt. Durch ihre Kürze wirken sie bereits wie Formeln oder poetische Verdichtungen; sie werden oft in einigem zeitlichen Abstand zu den Originalstimmen platziert (‚it’s another strand of narration‘), und die oft etwas somnambul klingenden Stimmen der Schauspieler (darunter Größen wie Otto Sander) tun ein Übriges, um den Eindruck konventionellen journalistischen O-Tons zu tilgen.
In diesem kunstvolle Klanggemälde kann man sich verlieren und alles nur noch als Sound hören. Was aber in dieser Manier gesagt wird, ist keineswegs immer wolkig. Es kristallisiert sich heraus: Die Schafscherer haben eine Geschichte. Sie singen melancholische Lieder. Sie betrinken sich, sie feiern nach der Arbeit. Eine Gewerkschaft haben sie gegründet, die Eisenbahn hat ihr Leben verändert. Den Wolhlstand des Landes haben sie mit aufgebaut und sind immer underdogs geblieben. Befragt man Kaye Mortley zum Inhalt, sind die Antworten sachbezogen und informiert. Ein gewaltiger Männerüberschuss hat für lange Zeit die australische Gesellschaft geprägt; Armut, Rauhbeinigkeit, Machismus, auch Angst vor Frauen gaben den Ton an – auch dafür stehen die Schafscherer.
Im Stück aber ist all das unauflösbar verbunden mit der Beschwörung eines Erinnerungsraums, mit der fast graphischen Art, Soundelemente entlang der Zeitfläche zu platzieren, mit ihrem Formwillen, der dokumentarische Aufnahmen und Beobachtungen zu Formeln und Archetypen destilliert. Die oben erwähnten Elemente, die Farbwerte (Farben bei Mortley wäre eine eigene akademische Arbeit wert), die Geräusche, die Lieder: sie sind der beobachteten Wirklichkeit in Australien entnommen und führen in der Radiokomposition ein Eigenleben. Wenn dort ganz langsam sich ein Bild aufbaut aus Schritten, Farben und Liedern, fühlt es sich an, als würde auf einer weißen Leinwand die Welt, die zuvor mit Auge, Ohr, Mikrofon und Erinnerung aufgenommen worden war, nochmal ganz neu aufgebaut. Ein komplexes, eigenwilliges Werk. Wenn man Wirklichkeit im Radio verhandelt, darf es nicht fehlen.
Ingo Kottkamp

Biografie
Kaye Mortley, 1943 in Sydney/Australien geboren, gehört zu den bedeutendsten Featureautorinnen der Gegenwart. Seit 1981 lebt sie in Frankreich. Für ihre klanglich anspruchsvollen Produktionen erhielt sie zahlreiche Preise. Kaye Mortley studierte Literaturwissenschaft in Sydney, Melbourne und Straßburg, wo sie promovierte. Von 1973 bis 1981 war sie Mitarbeiterin der Hörspiel- und Featureabteilung des Australischen Rundfunks. Seit 1981 arbeitet sie, mit Wohnsitz Paris, als freie Autorin für französische, australische und deutsche Rundfunkanstalten.
Ausgewählte Radiostücke
"Dort oben – Struthof. Das französische Lager" (SR/DRS/SFB/ORF 1997)
"Fremd im Elsass" (DRS/ORF/RBB 2004)
"Theben, ein Roadmovie" (DLR Berlin 2004)
"Lola und der rote Fiaker vor der Votivkirche" (DKultur 2013)