Reihe: Wirklichkeit im Radio

Lidice – das schweigende Dorf

72:33 Minuten
Das Lidice-Denkmal wurde an der Stelle des vorherigen Dorfes errichtet, das im Juni 1942 vollständig zerstört wurde.
Das Lidice-Denkmal wurde an der Stelle des vorherigen Dorfes errichtet, das im Juni 1942 vollständig zerstört wurde. © picture alliance/dpa/CTK/Milos Ruml
Von Ernst Schnabel · 02.10.2021
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Das tschechische Dorf Lidice wurde 1942 von den Nationsozialisten ausgelöscht. Ernst Schnabel rekonstruiert das Verbrechen in einem Feature, das sechzig Jahre nach seiner Entstehung nichts von seiner Wirkung eingebüßt hat.
Fortsetzung des wegweisenden Features von Ernst Schnabel.
Das Bergarbeiterdorf Lidice in Tschechien wurde am 10. Juni 1942 von den Nazis zerstört. Die Männer wurden erschossen, Frauen und Kinder deportiert, die Häuser dem Erdboden gleich gemacht. Wenige Wochen später entstand in England ein Film, für den die Bewohner des walisischen Dorfes Cwmgiedd die Ereignisse von Lidice nachspielten. Der Film sollte den Briten vor Augen führen, was bei einer Invasion der deutschen Wehrmacht geschehen würde.
Jahre nach Kriegsende sieht Ernst Schnabel diesen Film und nimmt ihn zum Ausgangspunkt für eine Radiosendung. Er erzählt die Katastrophe von Lidice nicht direkt, sondern über die erzählerische Bande des Films, den er als das gemeinsame Dritte mit seinem Radio-Publikum teilt. Vermittels der Tonspur und aus der Schilderung der Bilder heraus entwickelt Schnabel seine Kunst des gesplitteten, verzögernden, dialogischen Erzählens.
Das ganze Feature finden Sie hier im Playbutton sowie auf wirklichkeitimradio.de - dort finden Sie auch einen Essay über Ernst Schnabels "Lidice".

Reihe: Wirklichkeit im Radio
Lidice – das schweigende Dorf
Von Ernst Schnabel
Regie: Fritz Schröder-Jahn
Mit: Ernst Schnabel, Hans Paetsch, Hans Lietzau, Heinz Piper, Heinz Klevenow, Armas Sten Fühler, Werner Rundshagen, Richard Lauffen, Erich Schildkraut, Gustl Halenke, Horst Breitkreuz, Lothar Ziebell, Hilde Heinrich, Frauke Grund, Gerda Maria Jürgens, Marion Studt, Regine Lamster, Carola Bückler, Annegret Papenhausen, Werner Lommatzsch
Ton: Wilhelm Hagelberg
Produktion: NDR 1961
Länge: 72'28
Den folgenden Essay finden Sie zusammen mit zahlreichen weiteren und vielen Extras auf dieser Webseite.
Das Bergarbeiterdorf Lidice in Tschechien wurde am 10. Juni 1942 von den Nazis zerstört. Die Männer wurden erschossen, Frauen und Kinder deportiert, die Häuser dem Erdboden gleich gemacht. Wenige Wochen später entstand in England ein Film, für den die Bewohner des walisischen Dorfes Cwmgiedd die Ereignisse von Lidice nachspielten. Der Film sollte den Briten vor Augen führen, was bei einer Invasion der deutschen Wehrmacht geschehen würde.
Jahre nach Kriegsende sieht Ernst Schnabel diesen Film und nimmt ihn zum Ausgangspunkt für eine Radiosendung. Er erzählt die Katastrophe von Lidice nicht direkt, sondern über die erzählerische Bande des Films, den er als das gemeinsame Dritte mit seinem Radio-Publikum teilt. Vermittels der Tonspur und aus der Schilderung der Bilder heraus entwickelt Schnabel seine Kunst des gesplitteten, verzögernden, dialogischen Erzählens.
Wie fängt er das an? Mindestens drei Mal. Er beginnt mit einer Rezension des Films, der die klassische Echtheitsgarantie der Dokumentarkunst enthält: „Dies ist ein Bericht über einen Film ohnegleichen. Er ist ohne Drehbuch gemacht, ohne Stars. Auf der Leinwand erscheinen nur – (Pause) – ganz gewöhnliche Leute. Und die Geschichte, die ihnen widerfährt, ist bekannt, sie ist wahr, sie hat sich wirklich ereignet, und jedermann weiß es“.
Dann der zweite Anfang. Schnabel erzählt, wie enttäuscht er war von dem Film, alles alt und verblasst: „Der Ton kommt wie aus einer anderen Welt … die Gesichter grau, fremd … ich saß da und dachte, nein … es springt nichts mehr über … BIS ein Moment kam …“. Und kaum ist er bei diesem BIS, kaum ertönt die Marschmusik, wird sie schon gestoppt. Der Autor bricht ab. Er entschuldigt sich bei seinem Publikum: „Verzeihen Sie mir, dass ich Sie mitten hineingestoßen habe in den Film, so rücksichtslos“. Aber es sei eben schwierig, von Bildern im Radio zu erzählen, wo es da doch nur „Stimmen und Ohren“ gebe. Er wolle es trotzdem versuchen.
Schließlich der dritte Anfang: Fanfarenstoß, Musik, Titel. Beginn des Films. Eine Stimme von der Tonspur: „Zuerst sieht man ein Dorf, ein Dorf im Frieden, es ist übrigens ein Bergmannsdorf.“ Es folgen Bilder des Alltags in Cwmgiedd, das wie Lidice ein Bergarbeiterdorf war: Häuser, Rauch, Fördertürme, ein junges Mädchen holt Kohlen, englische Stimmen, in der Dorfschule singen Kinder – geschildert von einer keineswegs martialischen Männerstimme aus dem Film-Off. Aber wie riesengroß ist der Unterschied zu der immer wieder in die Schilderung hineinspringenden Stimme Ernst Schnabels! Der spricht, technisch gesehen, ganz dicht am Mikro, von der Haltung her wie am Telefon, einem einzelnen Hörer zugewandt: sehr präsent, dicht am Ohr, wie im Dialog. Alle, wirklich alle in unserer Gruppe haben diesen Ton, diese Art zu sprechen, als einzigartig empfunden.
In seinen Kommentaren zieht Schnabel immer wieder eine erzählerische Metaebene ein: „Ein Dorf irgendwo in der Welt. Dass es irgendwo ist, befremdet ein wenig. Aber auf der anderen Seite – leben wir nicht auch nur irgendwo?“ So baut er Brücken zu seinen Zuhörern: „Die Lehrerin könnte überall auf der Welt Lehrerin sein und die Kinder überall auf der Welt Kinder.“ Der Weltreisende Schnabel bekennt sich hier, pathetisch gesprochen, zum Credo des Humanismus, indem er die Menschen in Wales und in Lidice zusammen mit den Zuhörern und sich selbst, dem Autor, als Teil der „family of man“ vereint. Leiser, ziviler kann man das Gegenteil zu der Ideologie, die Lidice zerstört hat, nicht formulieren.
Danach geht die Schilderung des Alltags in dem walisischen Dorf Cwmgiedd minutenlang weiter. Hier ist nichts besonderes los, sagt der Film, sagt Ernst Schnabel. Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Dann bei Minute 11’ wird der Fluss des Alltäglichen unterbrochen. Der Erzähler Schnabel nagelt den Moment, dieses UNTIL-BIS an die Pinnwand der Erzähltheorie: Gerade in dem Augenblick, wo das gewöhnliche, normale Leben die Zuschauer zu langweilen beginnt, da erscheint auf der Leinwand quer über das Dorf hinweg in den Abendhimmel geschrieben eine Schrift: „Such is Life – So etwa sah das Leben aus in den Dörfern von Wales“ … BIS, UNTIL, PLÖTZLICH: Ein schwarzes Auto kommt über die Brücke mit einem Blechtrichter auf dem Dach. Marschmusik. Achtung! Achtung! Die Deutschen besetzen das Dorf.
Man könnte das UNTIL-BIS auch den vierten Anfang des Stücks nennen. Man hätte auch das ganze Stück mit diesem schwarzen Auto anfangen lassen können. Direkt. Das hätte vielleicht einen großen Effekt gehabt, Aufmerksamkeit erzeugt. Den Rest hätte man dann im Rückgriff erzählen können – eine vielfach erprobte Erzählkonstruktion. Aber schon das Gedankenexperiment macht deutlich, was sich verschoben hätte. Bei Ernst Schnabel und im Jahr 1961 ging es nicht um akustische Überwältigung oder maximale Emotionalisierung. Die Gewalt sollte nicht das erste Wort haben. Der Frieden sollte nicht als Verlierer dastehen, sondern als das zerstörte Glück. Deshalb diese Reihenfolge. Und deshalb ist Minute 11’ vielleicht numerisch ein vierter Anfang, aber erzählerisch ist er Teil des dritten Anfangs.
Nach diesen 11’ Minuten sind alle narrativen Instrumente gestimmt. Die Besetzung und Zerstörung von Lidice, erzählt über die Bande der walisischen Parallelgeschichte, nimmt ihren Lauf: es kommen neue Dokumente dazu, der Lebenslauf Reinhard Heydrichs, das Attentat auf Heydrich in Prag im Mai 1942, der Vergeltungsplan der Nazis, die Rache, die Selbstinszenierung der Mörder in einem weiteren Filmdokument, der fiktive Monolog eines jungen Mädchens, das die tschechische Gedenkstätte von Lidice mit der Schulklasse besucht. Viele Stränge. Ernst Schnabel schmeckt die Informationen nach, die er gesammelt und geschrieben hat, sortiert, dosiert, kommentiert, assoziiert. Er lässt sein Publikum nicht allein, sondern sitzt vermittelnd neben ihm. Beeindruckend. Dieses Spiel von Ernst Schnabel im erzählerischen Dreieck zwischen den Bildern, der Tonspur des Films und dem Autor im Dialog mit seinem Publikum ist herausragend. Und einer der wichtigsten Gründe, weswegen dieses Stück in unserer Liste steht, sind die ersten 11 Minuten – mit den drei bis vier Anfängen.
Marianne Weil
 
Aus unserem kollektiven Hörprotokoll
    In dem stück LIDICE steht kein wort an der falschen stelle, die art, in der schnabel seinen text SPRICHT, zugewandt, direkt, freundlich und eindringlich, ist ganz wunderbar.
    Die unglaublich angenehme Erzählhaltung von Schnabel überzeugen mich restlos.
    Wie geschickt der Verlauf gebaut ist und wie wohltuend Schnabels Stimme.
    Bei so viel Lob sucht man nach einem Pferdefuß – nun, das tschechische Mädchen, das die Dokumentationsstätte Lidice aufsucht und der Schnabel Worte der Empörung in den Mund imaginiert, wirkt etwas zeitgebunden. Ansonsten kann ich mich voll anschließen. Schnabel gibt dem Unsäglichen Sprache. Und hier ist seine erzähltechnische Brillanz sehr auf die Sache gerichtet, während die Inseln unter dem Winde, die ich auch toll finde, doch stärker Selbstporträt sind.
Ergänzendes Material
Nachruf auf Ernst Schnabel von Hanspeter Krüger, der als SFB-Redakteur im Nachtprogramm mit Schnabel zusammenarbeitete:
    ‚Ein Mann geht mit einer Kerze über eine leere, dunkle Bühne und beschreibt nüchtern und genau, was er im Umkreis des Kerzenlichts sieht. Dabei hat er die Hoffnung, daß die einzelnen beleuchteten und beschriebenen Punkte in der Phantasie des Zuschauers zu einem Ganzen zusammenschießen.’
    Was von seinem phantasiereichten Urheber so beschrieben wurde, war das Feature, eine Gattung, die er in den Jahren des Nachkriegs-Rundfunks erst erfand.
   Seine Stimme kommt einem zuerst in den Sinn: immer etwas belegt, fast heiser; die sächsische Färbung, das Stockend-Bedächtige. Sie ist auf zahllosen Tonbändern aufgezeichnet, sie wird (hoffentlich) noch oft zu hören sein.
    Das Zweite: sein unerbittlicher Zorn im Angesicht von Ungerechtigkeit und menschlicher Unzulänglichkeit – ein Mann des Langmuts war Ernst Schnabel nicht. Wochenlang hat er mich mit Verachtung gestraft, weil ich es einer älteren Kollegin gegenüber an der gebotenen Höflichkeit habe fehlen lassen.
Peter Leonhard Braun über Ernst Schnabel in dem Feature von Helmut Kopetzky: „Ein Mann im Wettlauf mit der Zeit“ von 2003:
    Ich weiß nun nicht, wie er seine früheren Texte verfasst hat, ich würde ihn eher als einen somnambulen Schreiber bezeichnen. Das Eigentliche ist, dass er sich zu sich selbst durchstellt, sich zu sich selbst verbindet um ne Art Strom herzustellen, was ja letztlich mit dem Hörer kommuniziert. DAS muss der erschöpfende Prozess gewesen sein, das ist als ob dich jemand betastet, wenn du seinen Texten zuhörst, das ist doch auch ne direkte Berührung, das ist ja auch nicht nur Sprache, das is einfach ne Person, das is ja eben diese Magie, wenn er selbst spricht. Er war ein Barde, er war ein Sänger, jemand der sieht, jemand der denkt und jemand der auszudrücken in der Lage ist. Und so haben wir dieses Phänomen, dass diese merkwürdig weiche und suggestive und sich auch immer wieder verzögernde Stimme Riesenerlebnisbögen darstellt – DAS hat er doch herzustellen versucht, er hat doch die Krallen sozusagen in sein Publikum schlagen können. 
Aus einer Sendung von Kathrin Bock für Radio Praha vom 24.6.2000
über die Zerstörung von Lidice und den britischen Film „The silent village“. Darin erinnert sich der Regisseur Humphrey Jennings an die Dreharbeiten mit den Bewohnern des walisischen Dorfes Cwmgiedd:
    Ich war überrascht und beeindruckt davon, wie schnell sie die Idee verstanden und bereit waren, sie in die Tat umzusetzen. In den paar Wochen, in denen der Film gedreht wurde, haben sie wirklich Lidice gelebt – sie haben es erlebt. Ich war beeindruckt davon, wie ernst die Leute, die keine Schauspieler, keine Intellektuellen waren, sondern einfache Bergarbeiter und ihre Familien, wie ernsthaft sie bei der Sache waren und sich vorstellten, sie seien die Leute, die die Tragödie erleben. 
Biografie
Ernst Schnabel, geboren am 26.9.1913 in Zittau, war Matrose, Schriftsteller, Übersetzer und Radiopionier. Er besuchte die Fürstenschule St. Afra in Meißen, die er mit 17 Jahren verließ, um mit der Handelsschifffahrt fünf Jahre um die Welt zu fahren. 1939 erschien sein erster Roman „Die Reise nach Savannah“. Zwischen diesen Polen des um die Welt Reisenden und des von der Welt Erzählenden spannte sich das Leben Ernst Schnabels. Nach dem Krieg, den er als Kommandant eines Geleitboots und Gefangener der Briten beendete, ging er als Mitarbeiter des NWDR nach Hamburg. Zusammen mit Alfred Andersch, Axel Eggebrecht und Peter von Zahn gehörte er zu den „vier Musketieren“ des Radiofeatures. Seine Radiosendungen sind Legende: „Der 29. Januar 1947“ wurde mehrfach neu inszeniert. „Interview mit einem Stern“ beschreibt die Umrundung der Erde mit dem Flugzeug und wurde in einer bemerkenswerten Länge von knapp drei Stunden gesendet. „Anne Frank“ wurde mit dem Prix Italia ausgezeichnet. Ernst Schnabel war außerdem: Leiter der Abteilung Wort beim NWDR (1946-1949), Intendant des NWDR Hamburg (1951-1955), Erfinder des Dritten Radioprogramms von NDR und SFB (1962-1965 – gemeinsam mit Rolf Liebermann) und schließlich Erfinder und Leiter der „Literarischen Illustrierten“ beim SFB-Fernsehen von 1965 an. 1968 schrieb er das Libretto zu Hans Werner Henzes Oper „Das Floß der Medusa“. Nach einem Streit 1968 mit dem neuen SFB-Intendanten Franz Barsig, der eine Diskussion mit den rebellierenden Studenten ablehnte, kündigte Ernst Schnabel und schrieb: „Ich kann einfach nur in reiner Luft arbeiten. Ich bin so. Es hat sich infolgedessen noch niemals einer wünschen müssen, mich los zu werden. Ich war solchen Einfällen mit der Erfüllung stets um wenigstens einen Tag voraus.“ Fortan lebte er als Autor und Übersetzer, zum Beispiel von Ernest Hemingway, bis zu seinem Tod am 25. Januar 1986 in der Knesebeckstraße von West-Berlin.
 
Ausgewählte Radiostücke
„Der 29. Januar 1947“ (NWDR 1947)
„Interview mit einem Stern“ (NWDR 1951)
„Der sechste Gesang“ (SWF/NDR 1955)
„Anne Frank – Spur eines Kindes“ (NDR 1958)
„Hurrikan“ (DLF 1965)
„Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ (DLF 1976)