Reihe: Wirklichkeit im Radio – ein Kibbuz im Kriegszustand

Die Vögel singen noch in Newe Ur

Der älteste - im Jahr 1910 gegründete - Kibbuz in Deganya, Israel
Der älteste - im Jahr 1910 gegründete - Kibbuz in Deganya, Israel © imago / Robert Fishman
Von Bob Uschi  · 27.04.2019
Historische Radiofeatures verbindet man mit betulichem Erzählerton. Doch diese Doku über einen Kibbuz im Kriegszustand ist wie ein Film im Radio. Ein Fundstück aus dem Jahr 1970.
Ein Grenzkibbuz in Israel. Im Mittelpunkt steht eine junge niederländische Familie. Bewohner sprechen über die Arbeit auf den Feldern, die Probleme, die der trockene Boden macht, über die Schwierigkeiten europäischer Juden mit ihrem neuen Leben im Kibbuz. Dazu kommt das Düsengeheul der Kampfflugzeuge, der Einschlag feindlicher Granaten, das Leben in Bunkern und Kellern. In fast filmischen Hörszenen wird die Anspannung des Alltags spürbar.

Wirklichkeit im Radio
Die Vögel singen noch in Newe Ur
Ein Bericht mit Originalaufnahmen aus einem israelischen Grenzkibbuz
Feature von Bob Uschi
Regie: der Autor
Mit: Klaus Nägelen, Ursula Jockeit, Joachim Pukaß, Uwe Friedrichsen
Produktion: SFB 1970
Länge: 37'49

Den folgenden Essay finden Sie zusammen mit zahlreichen weiteren und vielen Extras auf dieser Webseite.
Ein Fall, bei dem sich ausnahmsweise mal die gesamte "Jury" einig war: Dieses Stück fanden alle interessant. Und weitgehend aus denselben Gründen. Einigkeit gab es allerdings auch bei den Schwächen.
Das Stück erzählt sehr atmosphärisch. Und – für die Zeit eher selten – mit vielen szenischen Aufnahmen, die z.T. auch lange frei stehen. Zwei Grundstimmungen sind vorherrschend: Da ist die unglaubliche Stille, durchbrochen nur von Vogelgezwitscher, die eine weite und von vielen Vögeln besiedelte Landschaft evoziert. Die zweite akustische Spur ist von der kriegerischen Auseinandersetzung geprägt, vom Einschlag der Mörsergranaten, Düsenjägern am Himmel etc. (Die israelische Armeee liefert sich hier täglich Gefechte mit der Fatah, später auch mit irakischen Truppen, die auf der anderen Seite des Jordan, gegenüber vom Kibbuz, ihre Posten errichtet haben. Die Entstehungszeit des Stücks legt nahe, dass die Aufnahmen während des so genannten "Abnutzungskrieges" gemacht wurden – klar belegen ließ es sich für uns nicht.) Beide Stimmungen wechseln sich ab und überlagern sich zum Teil. Hintergründe zum – auch ansonsten nicht herausforderungsarmen – Leben im Kibbuz werden weitgehend im O-Ton von Bewohnern erzählt.
Der Autor tritt als auktorialer Erzähler auf, ist aber eher zurückhaltend und immer auch Beteiligter. Wenn die Sirenen heulen, muss auch er in den Luftschutzkeller. Und je näher die Einschläge kommen, desto mehr rücken sie auch dem Reporter und dem Hörer auf den Leib. Dramatischer Höhepunkt des Geschehens ist ein Gefecht, bei dem der Kuhstall des Kibbuz zerstört wird. Die Flucht in den Luftschutzkeller, die Stimmung dort, die Kindergruppe im separaten "Kinderbunker". Das teilweise Versagen der Aufnahmetechnik durch die Druckwelle der Explosion, die als ästhetisches Mittel genutzt und in die Erzählung integriert wird. Die Aufnahmen vermitteln ein Gefühl der Unmittelbarkeit. Stilistisch faszinierend ist, wie der Autor mit sehr wenigen visuellen Beschreibungen auskommt und stattdessen fast ausschließlich auf akustische Reize setzt. Wie er damit eine hohe Intensität erzeugt. Und außerdem sehr viel erzählt in der überschaubaren Zeit von 37 Minuten:
Warum lässt sich ein niederländisches Pärchen (nicht-jüdischer Herkunft) mit kleinem Kind an diesem unwirtlichen Ort nieder? Wie locken sie die Kinder täglich in den Luftschutzkeller? Wie fühlt es sich an, unter der Erde auf das Entwarnungssignal zu warten – Eltern für sich und Kinder für sich? Und was macht das tägliche Kriegsspiel mit den halbstarken jugendlichen Helfern? Das Feature bietet keinen ausgewogenen Blick auf die Kriegsparteien und ihren Konflikt. Der Autor lässt sich die Perspektive der Kibbuzim erzählen – mit dem Fokus auf ihr alltägliches Leben. Man erfährt dadurch vieles, was man in der Konfliktberichterstattung aus dem Nahen Osten in der Regel nicht hört. Ohne – und das ist das Wesentliche – dass der Eindruck der Parteinahme entsteht. Denn hier steht nicht das Für und Wider, die Suche nach Schuldigen, Konfliktlinien und Lösungsvorschlägen im Vordergrund. Sondern das Zuhören, das Erfassen eines einzigen ganz kleinen Puzzleteils. Wie gewinnbringend das sein kann, hat Bob Uschi (geboren 1911 als Viktor Silberberg in Rotterdam) hier vorgeführt.
Doch ein großer Wermutstropfen überschattet das Hörabenteuer, und das sind die Overvoices in der deutschen Fassung. In bester Re-Enactment-Tradition wird den Protagonisten ein fiktiver Charakter verpasst, hinter dem die originalen Töne weitgehend verschwinden. Alle Information, die in diesen Tönen steckte: verloren. Die Story bekommt dadurch eine unzeitgemäße Anmutung, die beim ersten Hören durchaus abschrecken kann. Auch beim Erzähler bricht bei aller Zurückhaltung manchmal ein Pathos durch, das das Stück klar in den 70er Jahren verortet. (Man denke beispielweise an die erzählerische Trilogie aus "Wasser, Schweiß" und – Wirkungspause – "Blut". Gefolgt natürlich von Gefechtslärm.) Doch lassen Sie sich nicht abschrecken und hören Sie weiter. Durch die ersten 10 Minuten onkelhaftes Kammertheater hindurch. Es lohnt sich am Ende doch!
Das Stück wurde im niederländischen Original 1969 mit dem Prix Italia ausgezeichnet.
Tanja Runow

Biografie
Bob Uschi (1911–1995) war ein niederländischer Zeichner und Radiomacher. Er wurde in Rotterdam als Viktor Silberberg in eine liberale jüdische Familie geboren. Mit acht Jahren zog er nach Berlin, studierte dort später Medizin, brach das Studium jedoch im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab. Er ging zurück in die Niederlande und arbeitete dort in der Folge als Sportkarrikaturist und Illustrator. Zunächst für die VARA, die öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft der Niederlande, die traditionell der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung nahe stand. Später für verschiedene Zeitungen und Buchpublikationen. Ab 1948 machte sich Bob Uschi auch als Radio-Autor einen Namen. Gemeinsam mit Gabri de Wagt begründete er die moderne niederländische Radiodokumentation. 1966 wurde er Leiter der Abteilung Hörspiel und Radiodokumentation beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Später leitete er die Abteilung Radiodokumentation. Seine Sendung "Radiorama" (1968-1974) zählte zu den populärsten Programmen im niederländischen Rundfunk. "Die Vögel singen noch in Newe Ur" wurde 1969 mit dem Prix Italia ausgezeichnet. Eine zweite Dokumentation von Bob Uschi, zusammen mit Joop Heintz, erhielt den Prix Italia 1977: "Het jongetje heet Hans".
Ausgewählte Radiostücke:
"Les enfants du paradis" (SFB 1971)
"Die Kinder von St. Nikolaus" (SFB 1972)
"Tränen Gottes" (NOS/SFB 1973)
"Das Wunder von Agua de Dios" (NOS/SFB 1976)
"Die Musik der armen Leute" (SFB 1988)