Hörspiel-Festival in Ägypten

Ein Genre wird wiederentdeckt

10:05 Minuten
Blick auf die Sultan Hassan-Moschee und ar-Rifa'i-Moschee in Kairo, Ägypten.
Ägypten belebt seine Hörspieltradition neu © blickwinkel
Von Susanna Petrin · 30.06.2020
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Ägypten war einst ein Pionierland des Hörspiels. Seit den 70er-Jahren wurden die Radiodramen aber sukzessive vom Fernsehen verdrängt. Jetzt erlebt der Hörfunk dort wieder eine Renaissance – frei von staatlicher Zensur und unter Quarantänebedingungen feiert das Hörspiel-Festival Mawgat Premiere.
5:15 Uhr an einem Wochenende im Ägypten der 50er-Jahre. Die Straßen sind leer. Die Menschen kleben vor ihren Radioempfängern. Viele haben sich nach Hause beeilt, um ja keinen Ton zu verpassen.
Da läuft zum Beispiel diese Geschichte über ein Mädchen, das mit ihrer Mutter in einem Haus mit Garten lebt. Rundum hohe Mauern. Draussen, so die Mutter, lauere eine garstige Welt voller böser Männer. Das Mädchen ist in ihrem kleinen Paradies gefangen. Bis eines Tages doch ein Mann in ihre Welt hereinbricht.
Al Assal al Mur, bitterer Honig, heißt diese Serie von Youssef Ezeddin Eassa. Der ägyptische Autor hat allein fürs Radio rund 400 Werke verfasst. Er gilt hier als Hörspiel-Pionier. 1940 feierte Eassas erstes Hörspiel Premiere. Ägypten war damit in der Region führend, sagt der ägyptische Theatermacher Ahmed El Attar:
"Viele Menschen wissen wohl nicht, dass wir eines der ersten, wenn nicht sogar das erste Land im Nahen Osten und Afrikas sind, das Radiodramen produziert hat."
"Das Hörspiel kann eine neue Dimension erreichen"
Noch in die späten 70er-Jahre hinein blieb das 5:15 Uhr-Radiodrama ein ägyptisches Ritual. Bis zu 180 Episoden konnte eine Serie beinhalten. Eassas Spezialgebiet waren psychologische Dramen mit grosser Symbolik. Bekannte ägyptische Filmstars liehen den Charakteren ihre Stimmen - Radiodrama hatte Prestige. Und doch: Mit der Zeit gewannen Fernsehserien die Überhand. Sogar Eassas Werke wurden nun verfilmt, Audiodramen gerieten zum Nischenprodukt.
Das soll sich jetzt ändern: Das Hörspiel soll in Ägypten ein Comeback feiern. Dank Mawgat, einem Hörspielfestival, das diesen Sommer zum ersten Mal stattfindet.
Mawgat heisst Wellen. Das Festival ist von Theatermann Ahmed El Attar und seiner Firma Orient Productions in Bewegung gebracht worden. Die Vorbereitungen haben bereits vor über einem Jahr begonnen: Junge Autorinnen und Autoren haben nach einer halbjährigen Schulung zeitgenössische Hörspiele für Mawgat produziert. Es geht um Selbstfindung, um soziale Nöte oder auch Feminismus. So wird etwa die Geschichte Ali Babas aus Sicht seiner Frau, Ali Mama, erzählt. Sie formt eine Frauengang.
Mudar Alhaggi, Erik Altorfer (v.l.n.r.) bei den Aufnahmen zu "Barsach"
Mudar Alhaggi, Erik Altorfer (v.l.n.r.) bei den Aufnahmen zu "Barsach"© Deutschlandradio - Sando Most
Auf der Webseite des Festivals finden sich weitere Projekte: Mini-Hörstücke, die während Workshops an diversen Schulen in Kairo entstanden, reproduzierte Werke von Radiopionier Eassa sowie Hörspiele des Regisseurs Erik Altorfer, die er zuvor für den Deutschlandfunk produziert hatte – "Barsach" und "Die Toten haben zu tun". Erik Altorfer bereist den Nahen Osten bereits seit zehn Jahren. Im März 2019 hielt er in Alexandria einen Workshop, aus dem acht weitere nun hörbare Produktionen hervorgegangen sind. Das alte Format stößt auf neues Interesse. Ahmed El Attar:
"Ich habe immer geglaubt, dass nicht viele junge Leute an Hörspielen interessiert sind, dass es mehr etwas für ältere Leute sei. Aber nein: Es gibt viele Junge, die gerne fürs Radio schreiben, spielen, produzieren. Das haben wir gesehen. Sogar die ganz jungen Jungen. Sie waren sehr begeistert davon. Es gibt ein großes Potenzial. Und mit der Zeit kann das Hörspiel eine neue Dimension erreichen."
Ägyptens Hörspieltradition ist ein Schatz
El Attars Aussage deckt sich mit dem Feedback einer Teilnehmerin an Erik Altorfers Workshop. Reham Ezz el Din ist eine junge Autorin, die das Audiodrama nun für sich kennen- und lieben gelernt hat:
"Als Autorin war es für mich das erste Mal, dass ich in einem Studio den ganzen Prozess miterleben konnte. Ich habe gesehen, wie Worte auf einem Blatt sich verwandelten in Töne, in Musik. Man geht Schritt für Schritt durch diesen Prozess und am Ende hat man ein Wow-Erlebnis. Ich hätte mir am Anfang nicht vorstellen können, was am Ende dabei herauskommt. Ja, ich liebe es."
Dabei, gesteht Reham, habe auch sie bis vor Kurzem immer geglaubt, Hörspiel sei etwas Altmodisches:
"Um ehrlich zu sein dachte ich, Radiohören sei etwas für die ältere Generation. Ich habe mich immer als visuellen Menschen gesehen: Ich will die Dinge sehen, ich will ins Kino gehen."
Doch jetzt habe sich ihr eine neue Welt aufgetan: eine aus Stimmen, Musik und Geräuschen. Es tue ihrer Generation gut, die Augen etwas auszuruhen und die Ohren zu schärfen. Ausserdem habe sie ihr eigenes kulturelles Erbe entdeckt:
"Ägypten hat eine besonders reiche Hörspiel-Tradition. Während ich an meinem Stück arbeitete, habe ich viel altes Material gefunden: Tolles Zeug - ein wahrer Schatz!"
Ohne Zensur und Ansteckungsgefahr
Hörspiel erscheint plötzlich als das ideale Medium für diese seltsame Zeit. Gerade im unfreien Ägypten, wo nicht nur Corona, sondern auch eine Theater- und Filmzensur wütet. Hörspiele laufen etwas unter dem Radar. Dazu sind sie einfach, kostengünstig und virenfrei produzierbar. Hörspielregisseur Erik Altorfer hat die Erfahrung machen müssen, dass es für Theatermenschen in Ägypten in jüngster Zeit noch schwieriger geworden ist:
"Und da ist natürlich Hörspiel ein Medium, wo man etwas versteckter produzieren kann. Während der Pandemie kann ich mir vorstellen, dass es das Medium der Stunde werden kann. Weil man produzieren und aber auch konsumieren kann, ohne dass man sich bewegen muss und ohne mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen."
Das diesjährige Hörspiel-Festival bildet erst den Auftakt. Mawgat soll jährlich fortgeführt werden: Nach Corona auch physisch in einem simulierten Wohnzimmer in Downtown Kairo. Mit den Schulungen soll es ebenfalls weitergehen. Unter anderem wird Erik Altorfer mit denselben Teilnehmern seinen Workshop fortsetzen, eine hier einmalige Vertiefung, wie er sagt.
Reham sowie Festivalleiter Ahmed El Attar glauben, dass nach der Pandemie das Potenzial fürs Hörspiel sogar steigen werde. Nämlich, wenn wieder alle stundenlang im Stau stecken:
"Viele Menschen verbringen Stunden im Stau. Und Radio ist der große Hit in Ägypten. Wenn man in ein Auto oder Taxi steigt, läuft 50 Prozent der Zeit das Radio."
In Zukunft sollen alle im Stau Gefangenen statt Musik und Predigten wieder vermehrt hören, was sich schon ihre Eltern und Großeltern am liebsten angehört haben: Radiohörspiele.
Sämtliche Hörspiele sind noch bis kommenden Frühling auf der Webseite www.mawgatfestival.com abrufbar, allerdings meist nur auf Arabisch. Das Festival lädt zudem alle Interessierten dazu ein, eigene Hörstücke einzusenden.
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