Zwangssterilisierung

Meine liebe Änne!

Von Ricarda Bethke · 10.11.2015
In Ännes Schrank fand ich zwei Taschen mit Briefen und Dokumenten. Die eine war aus feinem Schlangenleder, mit Seide gefüttert, zimtbraun, abgerieben, manche Nahtstellen gelöst, der Verschluss ausgerissen. Darin lagen Richards Karten und Briefe und drei schmale, schwarze Kalender. Unter ein ausgeleiertes Gummiband waren noch drei Diarien geklemmt, zwei davon Anatomie und Physiologie der Schwesternschülerin Änne T.
Geisteskrankheiten: "Ein Mensch, der geisteskrank ist, muss es nicht unter allen Umständen bleiben, soweit sich die unnormalen, ihn krank machenden Zustände nicht immer schwerer werdend wiederholen." Und weiter unten: "Dann ist eine Änderung nur durch künstlich erzieltes Aussterben möglich." Auf den letzten Seiten des dritten, schmaleren Diariums, einem Tagebuch aus den Jahren 1943 bis 1945, fand sich mit Bleistift in Sütterlin-Schrift der Bericht über Ännes Zwangssterilisierung. Nie hat sie mit jemandem darüber gesprochen oder etwa eine juristische Anklage erhoben. Entsprechende amtliche Schreiben nach 1945 hat die Familie unterdrückt, so jedenfalls haben sie es mir nach Ännes Tod erzählt. Sie schämten sich, oder sie fürchteten sich, oder sie wollten Änne vor der Erinnerung schützen. Ich weiß es nicht.
Regie: Thomas Zenke
Mit: Corinna Harfouch, Frauke Poolman, Bernt Hahn
Produktion: DLF 2008
Länge: ca. 49'00

Ricarda Bethke, geboren 1939, lebt in Berlin. Das Stück "Meine liebe Änne!" wurde mit dem Robert-Geisendörfer-Preis 2008 ausgezeichnet.