Vortragsreihe: Auserzählt?

Erzählen und Gesellschaft

Protestieren mit unbeschriebenen Blättern: Indische Mitglieder der Tibetanischen Jugend dürcken ihre Solidarität mit den sogenannten "White Paper" Protesten in China aus, Neu Dehli, Indien, 2.12.2022
In einigen Ländern demonstrieren Todesmutige mit unbeschriebenen Blättern: Taugt gegen die grotesken Fiktionen nur noch das Anti-Narrativ der Leere? Im Bild: Solidaritätsproteste in Neu Dehli, Indien, 2.12.2022 © IMAGO / NurPhoto / Arrush Chopra
14.02.2023
Im vergangenen Jahrzehnt haben wir einen grundlegenden Wandel in unseren Erzählformen erlebt. Egal, ob in der Literatur oder im Journalismus: Alle schreiben vom Ich. Was hat diese Entwicklung ausgelöst? Verlieren wir damit die großen Erzählungen?
Mit Daniel Schreibers Keynote am Eröffnungsabend startet die Staffel „Auserzählt?“, die einen Schwerpunkt auf das Erzählen in sich wandelnden gesellschaftlichen Kontexten legt. Der Autor und Journalist widmet sich dem in Publizistik und Belletristik, in Prosa und Podcast so weit verbreiteten „Erzählen des Ichs“.
Die Kölner Schriftstellerin Angela Steidele berichtet von leeren Blättern und Literatur ohne Narrativ inmitten boshafter Fabulierlust und irreführender Phantasie. Kathrin Röggla, Prosa-, Theater-, und Radio-Autorin und Professorin an der KHM Köln zeigt „Im Auserzählten“ die Grenzen der Klimaerzählung auf.
Und Autorin Ronya Othmann fragt: Wie lässt sich Gewalt erzählen? Oder kann Gewalt überhaupt erzählt werden?
Die Investigativ-Reporterin Katja Riedel blickt zurück auf die Recherchen, in denen sie mit ihren Coautoren Sebastian Pittelkow mit Christian Basl in ihrem fünfteiligen Podcast „Die Jagd“ (WDR/NDR) geheim gehaltene WhatsApp-Nachrichten von über siebzig Abgeordneten der ersten AfD-Bundestagsfraktion aufdeckte.

Das Erzählen des Ichs

Keynote am Samstag, 3. März im Kammermusiksaal
Im vergangenen Jahrzehnt haben wir einen grundlegenden Wandel in unseren Erzählformen erlebt. Egal, ob in der Literatur oder im Journalismus: Alle schreiben vom Ich.
Wo früher Perspektiven vorherrschten, die sich als objektiv inszenierten, und es manchmal sogar verpönt war, „ich“ zu sagen, ist eine deutliche Subjektivierung zu erleben. Persönliche Essays und Autofiktion, lange nahezu bedeutungslos, sind zu Größen auf dem Literaturmarkt und im Literaturbetrieb geworden. Und selbst in journalistischen Texten gehört es heute zum guten Ton, beherzt „ich“ zu sagen.
Was hat diese Entwicklung ausgelöst? Was verspricht sie uns? Und hat sie nicht auch negative Seiten? Über den Verlust unserer großen Erzählungen, das Ich und das Wir und über das Leben im Kleinen.
Daniel Schreiber
Der Autor Daniel Schreiber© Christian Werner

Daniel Schreiber, 1977 geboren, ist Autor der Susan-Sontag-Biografie „Geist und Glamour“ (2007) und der beiden persönlichen Essaybände „Nüchtern. Über das Trinken und das Glück“ (2014) und „Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen“ (2017). Er lebt in Berlin und arbeitet als freier Autor, u.a. für ZEIT Online. 2021 erschien sein Bestseller „Allein“.

Von leeren Blättern und Literatur ohne Narrativ

Vortrag von Angela Steidele am 4. März um 10:00 Uhr
Auserzählt? Mitnichten! Wir leben inmitten boshafter Fabulierlust und irreführender Phantasie. Ein Essay über das Erzählen in sich wandelnden gesellschaftlichen Kontexten vom Kölner Kongress 2023 zum Erzählen in den Medien im Deutschlandfunk.
Russlands siegreiche "Spezial-Operation" gegen die Ukraine, Chinas weltbester Umgang mit Covid-19, der Riesenerfolg des Brexit, gestohlene Wahlen in den USA, Wandel durch Handel – die krassesten politischen Lügen kleiden sich in großangelegte Erzählungen. Alles hat heute eine Narrativ – nur die Literatur hat keins mehr. Dokumentationen, Autobiographien, Recherchen tarnen sich als Romane.
Wer will noch fiktional erzählen, wenn er sich mit Aluhutträgern, Verschwörungsidioten oder Reichsbürgern gemein macht? In Russland und China demonstrieren Todesmutige mit unbeschriebenen Blättern: Taugt gegen die grotesken Fiktionen nur noch das Anti-Narrativ der Leere?
Porträtbild der Schriftstellerin Angela Steidele
Die Autorin Angela Steidele hat über die Aufklärung im 18. Jahrhundert geschrieben. Doch es gebe Gemeinsamkeiten mit heute: zum Beispiel den Kampf gegen "Irrationalismen". © Heike Steinweg

Wissenschaftlich recherchieren – literarisch schreiben kennzeichnet sowohl Angela Steideles Biographien (In Männerkleidern über Catharina Linck 2004, neu 2021; Geschichte einer Liebe über Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens 2010; Anne Lister 2017), als auch ihr essayistisches Werk (Zeitreisen 2018; Poetik der Biographie 2019) und nicht zuletzt ihre Romane (Rosenstengel 2015, Aufklärung 2022). Angela Steidele, geb. 1968, wurde u.a. mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.

Podcastteam „Die Jagd“

Vortrag von Katja Riedel und Sven Preger am 4. März um 11:00 Uhr
Im September 2017 schafft es die AFD zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag. Noch am Wahlabend hallt Alexander Gaulands „Wir werden sie jagen!“ durch die Republik. Wie gefährlich ist eine Partei am äußersten rechten Rand im Parlament?
Die Investigativ-Reporterinnen- und Reporter von WDR und NDR, Katja Riedel und Sebastian Pittelkow, berichten schon seit Jahren über die AfD. Mit Datenjournalist Christian Basl haben sie die geheimen Chats der AfD-Bundestagsfraktion nachverfolgt (WhatsApp Quasselgruppe) und mit 40.000 Nachrichten von über siebzig Abgeordneten der ersten AfD-Bundestagsfraktion rechte Politik und Gesellschaft in Sprache und Dialog aufgedeckt.
Katja Riedel 21.03.2017 PG Ausland, Investigatives Ressort, Tagesschau© WDR/Herby Sachs Katja Riedel 21.03.2017 PG Ausland, Investigatives Ressort, Tagesschau© WDR/Herby Sachs
Die Journalistin Katja Riedel© WDR Unternehmensfoto / Herby Sachs

Katja Riedel, ausgebildet an der Deutschen Journalistenschule München, ist eine freie Journalistin und arbeitet im Investigativressort beim WDR. Sie schrieb für die FAZ, die SZ und den Tagesspiegel. Aus der investigativen Recherche, die Katja Riedel gemeinsam mit Sebastian Pittelkow und Datenjournalist Christian Basl zur geheimen AfD-Chatgruppe „Quasselgruppe“ führte, entstand 2021 der Podcast „Die Jagd“ in Coproduktion von WDR und NDR. Riedel und Pittelkow veröffentlichten 2022 auch das Buch „Rechts Unten. Die AfD. Intrigen, heimliche Herrscher und die Macht der Geldgeber“.

Im Auserzählten. Erzählen, Klimakrise und Gesellschaft

Vortrag von Kathrin Röggla am 4. März um 12:00 Uhr
Die derzeit brennendste globale Geschichte, die erzählt wird, ist die der sich dramatisch zuspitzenden ökologischen Krisen, sie wird als spektakuläre Untergangserzählung vorgetragen, als Warnung und Mahnung. Doch je lauter und je drastischer wir sie erzählen, umso weniger wird sie gehört oder gar verstanden.
Gibt es das überhaupt, das Auserzählte? Kann ein Stoff, ein Thema auserzählt sein? Was meinen wir, wenn wir sagen, eine Geschichte oder ein Stoff sei auserzählt, beziehen wir uns dabei auf eine Verwertungslogik, in der wir sagen, eine Sache hat sich verbraucht? Sie sei inflationär am Markt und es gebe keine Abnehmer für sie. Oder ist eine Erzählung einfach an ihr Ende gekommen. Sie hat einen Rand erreicht und es gibt schlicht kein Wort mehr zu verlieren, ihre Binnenökonomie, die Erzähldramaturgie hat sich erschöpft.
Und sprechen wir dabei nur von Literatur, oder auch von gesellschaftlichen Erzählungen? Immerhin hat der Begriff des Narrativs in den letzten zwanzig Jahren gehörig Karriere gemacht und den der Ideologie ersetzt. Wir hatten also Zeit, uns an die Idee der gesellschaftlichen Erzählungen zu gewöhnen, fast so, als ob wir uns gesellschaftlich „nur“ Geschichten erzählen würden, denen man auf den Leim gehen kann oder nicht, denen jedenfalls wenig reale Grundlage entspricht.
Seltsamerweise gilt die Klimakrisenerzählung schon seit langer Zeit als auserzählt. Wäre hier nicht die traditionelle Aufgabe der Literatur, diese vermeintlich auserzählten Stoffen wieder zurück ins Erzählbare zu bringen, heute mehr denn je geboten?
Ein Essay, der als Vortrag der Autorin auf dem Kölner Kongress 2023 zum Erzählen in den Medien im Deutschlandfunk gehalten wird.
Kathrin Röggla
Die Schriftstellerin Kathrin Röggla ist auch Vizepräsidentin der Akademie der Künste© Jessica Schäfer

Kathrin Röggla wurde 1971 in Salzburg geboren. Seit 1988 ist sie aktiv in der literarischen Öffentlichkeit und schreibt Bücher, Kurzprosa. Radioarbeiten: Hörspiele, akustische Installationen, Netzradio. Seit 2002 entstanden auch Theatertexte. Zahlreiche Auszeichnungen, Auslandaufenthalte und Poetikdozenturen. Sie ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste in Berlin und seit 2020 Professorin für "Literarisches Schreiben" an der KHM Köln.

Die Gewalt ist keine Metapher

Vortrag von Ronya Othmann am 4. März um 14:00 Uhr
Gewalt ist omnipräsent und zugleich unsichtbar. In den sozialen Medien, im Theater oder in Büchern werden Gewaltdarstellungen mit Trigger-Warnungen versehen. Terroristen verbreiten Gewaltbilder, die zugleich wieder gelöscht werden. In Diktaturen dokumentieren Demonstranten mit ihren Smartphones das brutale Vorgehen von Militär und Polizei auf den Straßen. Wie lässt sich Gewalt erzählen? Oder kann Gewalt überhaupt erzählt werden?
Porträt von Ronya Othmann, Autorin und Journalistin. Klagenfurt, 29.06.2019.
Autorin Ronya Othmann© akg / Susanne Schleyer

Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren und lebt in Berlin. Seit 2021 schreibt sie für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ die Kolumne „Import Export“. Ihr Debütroman „Die Sommer“ erschien 2020, für den sie mit dem Mara‑Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. Für den Gedichtband „die verbrechen“ (2021), erhielt sie den Orphil-Debütpreis und den Horst-Bingel-Preis.

Panel Auserzählt?  Über Erzählen und Gesellschaft

Samstag 4. März um 16:30 Uhr

„Auserzählt?“, das ist die Frage, die dem Panel über das Erzählen in sich wandelnden gesellschaftlichen Kontexten zugrunde liegt. Schriftstellerinnen, Autoren und Medienjournalisten über die Grenzen und Chancen des bereits „Auserzählten“.
Mit Angela Steidele, Kathrin Röggla, Daniel Schreiber, Ronya Othmann und Katja Riedel und Sven Preger vom Podcastteam „Die Jagd“
Moderation: Tanja Runow