Völker leert die Regale

Von Christoph Schmitz-Scholemann |
In gebildeten, besonders in literarisch ambitionierten Kreisen ist sie vermehrt zu beobachten: die Belesenheitsheuchelei und die damit verbundene Aufdringlichkeit, mit der das Lesen von Büchern als schlechthin Heil bringend angepriesen wird.
Der französische Literaturwissenschaftler Pierre Bayard hat dieses Phänomen in seinem Essay "Comment parler des livres que l'on n'a pas lus" aufgegriffen. Entgegen der gängigen Auffassung, dass LESEN! den kategorischen Imperativ geradezu ersetzt, hält Bayard es mit Platon, Paul Valéry, Oscar Wilde u.v.a., die sich alle - ob ernsthaft oder polemisch, jedenfalls recht skeptisch - über den Bildungswert des Lesens und den Belesenheitskult geäußert haben. Als geradezu lesefaul outete sich Kurt Tucholsky: "Das bisschen, was ich lese, schreibe ich mir selbst."

Zweifellos eine komfortable Ausgangslage. Aber auch der Nichtselbstschreiber darf sich Fragen stellen: Schadet Lesen meiner Fantasie, meinem Charakter, meinem Geldbeutel? Oder, wenn es denn schon sein muss, umgekehrt: Ist nicht das Reden über Bücher, die ich nicht gelesen habe, das wahre Abenteuer?

Produktion: Deutschlandfunk 2008