Reihe: Wirklichkeit im Radio

Voice of America

34:31 Minuten
Werbe-Spots in den USA – neben Sport und Comics am häufigsten im Programm-Muster. Zu Sehen: Comic-Figur Popey mit Spinatdose.
Werbe-Spots in den USA – neben Sport und Comics am häufigsten im Programm-Muster. © imago / Heritage-Images
Von Ferdinand Kriwet  · 18.12.2021
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Wirklichkeit wird gemacht, und ihr eifrigster Produzent ist das Fernsehen. Mit dieser These im Kopf reiste Ferdinand Kriwet 1970 in die USA und montierte die Stimme Amerikas aus unzähligen TV-Schnipseln von der Morning Show bis zum Abendgebet.
Ein Feature aus der Reihe "Wirklichkeit im Radio"
Im Pressetext der Ursendung 1970 erklärt der Autor:
"‚Voice of America‘ ist der Titel eines Projekts, dessen Ende von Anfang an offen ist. Unter ihm mögen sich zukünftige Ergebnisse offener Hörtext-Formen versammeln, deren Materialien amerikanische Stimmen, speziell solche der Massenmedien sind und der durch sie vermittelten. Amerika ist nicht Bonanza-Land. Amerika ist nicht Marlboro-Country. Amerika ist vielmehr selbst eine einzige Television der unbegrenzten Möglichkeiten.
Gemäß der Programm-Permanenz soll ‚Voice of America‘ der Anfang einer endlosen Komposition sein, die, bestehend aus kleinsten Zellen, zu jedem Zeitpunkt vorerst noch von mir nach bestimmten Maßgaben erweitert, reduziert, verändert werden kann und soll.
Die Fifth Avenue ist am 11. Juli 1970, nach einem Autoverbot von 10 bis 17 Uhr verkehrsfrei abgebildet.
Die Fifth Avenue im Juli 1970 - nach einem Autoverbot verkehrsfrei abgebildet.© picture alliance / AP Images
Ausgangsmaterial der ersten zwei Manifestationen dieses ‚work in progress‘ sind neben wenigen Außenaufnahmen Tonband-Mitschnitte von Fernseh- und Radiosendungen, die ich im Juli/August in New York machte.
Dem Programm-Muster des USA-TV habe ich diese Aufnahmen in der Reihenfolge ihrer annähernden Häufigkeit aufgeteilt in:
01. Commercials: Werbe-Spots bis zu 30 und 60 Sekunden Dauer
02. Sports: Baseball – Football – Baseball – Football – Baseball
03. Comics: Akustika von Supermännern, Mannweibern, Affenmenschen, Raumrobotern und anderen Monsters
04. Shows: Show-An- und Absagen, Filmankündigungen etc.
05. Station identification: Stationsansagen während der Unterbrechung des Programms zwecks Einblendung von Werbespots
06. News: Nachrichten, Reportagen
07. Politics: Statements amerikanischer, auch in Deutschland namentlich bekannter Politiker
08. Prayers: Gebete, die einen jeden gottgegebenen Tag der amerikanischen Telemission einsegnen
09. Money: Börsenberichte und Aufnahmen aus dem American Stock Exchange
10. Außen: Times Square, Pennsylvania Station, Coney Island, Central Park
Mit diesem Material montiere, schneide, klebe, mische ich einzelne Hörkomplexe, die Eindrücke vermitteln sollen von Eindrücken, die mir in Amerika vornehmlich durch die Massenmedien TV und Radio beschert wurden.
Kompositorisch liegt dem Projekt die Idee mobiler, in sich offener, bedingt verknüpfbarer, nicht aber willkürlich zusammenzukleisternder Einzelzellen zugrunde. Die kleinste Einheit wäre etwa ein einzelner, vielleicht gar noch verkürzter Laut, der beispielsweise Signalcharakter haben könnte, die größte Einheit wäre eine fertige Mischung von ca. 5 Minuten. Auf ihre immerwährende Akkumulation angelegt, können diese einmal fixierten Formen (oder Hörtexte) von Einheiten, Materialien, Mischungen anderer Personen, Autoren, Hörer, Regisseure, Tontechniker etc. zu neuen, jeweils mit zeitlich jüngsten Dokumenten aktualisierten Modellen oder – wie ich sie nennen will – Manifestationen ergänzt bzw. erneuert werden."
Über Ferdinand Kriwet ist viel geschrieben worden. Er ist ein Pionier der Multimediakunst und ein Protagonist des Neuen Hörspiels. Seine grafischen, plastischen und installativen Arbeiten waren wegweisend. Als Schriftsteller mit einem sehr erweiterten Textbegriff war er seiner Zeit voraus. Designerinnen, Hörspielmacher, Theatermenschen und Schreibende – alle können sich auf Kriwet berufen. Und nun melden sich auch noch wir zu Wort, wir vom Projekt Wirklichkeit im Radio mit seinem Fokus auf Features und Dokumentationen zum Hören.
War Kriwet denn ein Featureautor?
Nein – in dem Sinne, dass er nie von einer Featureredaktion beauftragt wurde und seine Radioarbeiten nie als Feature angekündigt worden sind. Sie wurden als Kunst rezipiert.
Jein – in dem Sinne, dass er umfassend und radikal mit dokumentarischen Material arbeitete, bloß nicht so wie konventionelle Featuremacher.
Ja – in dem Sinne, dass die Herangehensweise seiner Hörtexte für jede und jeden, der oder die dokumentarisch arbeitet, inspirierend und von Belang ist. Und das gilt besonders für Voice of America.
Es ist die Zeit der Ferien und der großen Hitze. eine touristisch für New York mörderische Zeit, während der jeder, dem es möglich ist, New York verlässt.
Und im Jahr 1969 die Zeit der Mondlandung, deren mediale Begleitung Kriwet in einem anderen Projekt erkundete. Diese Sätze stehen in Kriwet Einführung zu Voice of America bei der Ursendung 1970. Eine sehr aufschlussreiche und trotz ihres manchmal etwas steifen Tons auch sehr hörerzugewandte Beschreibung der Sendung und ihrer Entstehung. Es sind Sätze, die auch Teil eines Reisefeatures sein könnten. Die Featuregeschichte ist voll von Autorinnen und (häufiger) Autoren, die auf Reisen gehen und dem mutmaßlich zu Hause gebliebenen Publikum davon berichten. In die USA fuhren sie besonders gern und dort am liebsten nach New York. Die Dissertationsschrift zum Thema „Die New Yorke des Radiofeatures“ ist noch zu vergeben. Voice of America bekäme darin einen exzentrischen Platz, vielleicht zu Unrecht, denn wer kann schon sagen, wo die Mitte und der Rand sind. Jedenfalls interviewte Kriwet keine Minderheiten und gab keine Impressionen aus Manhattan zum Besten. Er ging ins Hotelzimmer und schaute Fernsehen.
Ausgangspunkt [...] von VOICE OF AMERICA sind [...] Tonbandmitschnitte amerikanischer Fernsehprogramme. Diese Aufnahmen entstanden vom 9. Juli bis 23. August 1969 in der Suite 829 des Fifth Avenue Hotels, [...] New York [...]. Während dieser Zeit hatte ich mir zwischen 8 und 4 Fernsehgeräte gemietet, sodass ich die Programme gleichzeitig miteinander vergleichen und mir die Sendungen oder Einstellungen aussuchen konnte, von denen ich besonders beeindruckt war und die mir typisch zu sein schienen für das amerikanische TV.  
Dieser Perspektivwechsel ist so einfach wie schlagend. Wie komme ich der US-amerikanischen Wirklichkeit auf die Spur? Indem ich mich der Beschallung, Beflimmerung und Berieselung aussetze, der das ganze Land permanent ausgesetzt ist. Und zwar in einer Gründlichkeit, einer Art dokumentarischen Method Acting, die an spätere Selbstversuche wie Super Size Me von Morgan Spurlock (2004) oder Anderswelt. Ein Selbstversuch mit rechten Medien von Hans Demmel und Friedrich Küppersbusch (2021) erinnert. Dabei bescheidet sich Kriwet: nicht eine Analyse des US-amerikanischen Fernsehens will er geben, sondern den „Eindruck eines Eindrucks“: ein 35-minütiges Substrat dessen, was er bei seinem fünftägigen Dauerglotzen wahrgenommen, gehört und empfunden hat. Er tut dies, anders als die eben erwähnten Dokumentationen, ausschließlich mit dem aufgenommenen Material; die Rahmen- und Ich-Erzählung verlegt er in die Einführung. Radikale konzeptuelle Strenge – der Fernsehalltag früh morgens bis spät abends – und eine genauso radikale Subjektivität treffen hier aufeinander. Verbunden und angetrieben werden sie von einer manischen Akribie. Man kann, wie auch bei anderen Arbeiten Kriwets, fast nicht glauben, dass diese flirrenden Montagen lange vor der Einführung des Digitalschnitts gemacht worden sind. Hören wir in ein paar Stellen rein.
4'37–7'27
Tief ↔ mittelhoch, rauh ↔ sanft, aufgebracht ↔ beruhigend: zwei Voice Characters werden per Schnitt auf eine gemeinsame Hörbühne gebracht und streiten wie im Puppentheater um die akustische Vorherrschaft. Die eine gehört einer namenlosen Hausfrau, die eine Wutrede gegen steigende Preise hält: den „amerikanischen Habenichtsen“ und den „restlos Ausgepowerten“ ordnet Kriwet sie zu. Die andere singt eine Textzeile, die einem vielleicht als Ohrwurm hängenbleiben kann: „Into your life there will come friends.“ (Es ist Jackie Chain vom Vokalduo „Jackie and Roy“ und sie singen „Someone Singing“ von Donovan, aber das ist egal; es ist eben ein Lied, das gerade im Fernsehen läuft.) Kriwet lässt die zweite gewinnen und nennt ihr Songfragment „Durchhalteparole“. Die simple Wiederholungsschleife der immer gleichen Textzeile lässt er so lange stehen wie keinen anderen Ausschnitt. Er bildet damit seinen Eindruck ab, dass das Fernsehen vor allem einlullen und ruhigstellen will, und erzielt einen ähnlich hypnotischen Effekt wie 36 Jahre später der Hip-Hop Künstler J Dilla in seinem Album Donuts.
8'19–9'19
Am meisten scheint das Fernsehen zu sich selbst zu kommen, wenn es einfach nur sagt, dass es da ist. Die Collage von Sendernamen und akustischen Logos entwickelt den stärksten Groove und wirft den tiefsten Höranker. Will Kriwet das kritisieren, anprangern, offenlegen – oder auch feiern und sich und uns der Suggestion überlassen – oder einfach zeigen? Jedenfalls sind die Sounds da. So sehr, dass man meinen kann, die Collage sei nicht gemacht, sondern die Sounds hätten sich von selbst mit ihren Partnersounds verbunden.
21'05–23'58
Töten, sterben, zählen – eine Stretta aus Meldungen über Tote auf amerikanischer und vietnamesischer Seite im Vietnamkrieg. Die Nennung der Zahlen wird zur Manie, und je mehr Tote von den Fernsehstimmen aufgelistet werden, desto weniger fühlt man, dass es Menschen waren. Auf die vietnamesischen Toten folgt die Anpreisung von Chemiewaffen und danach eine Werbung für Insektenvernichtungsmittel. 25'18–26'19 Jetzt sind Börsenberichte dran, aber eigentlich findet hier das gleiche statt wie bei der Songschleife und der Collage von Senderkennungen. Die geläufigen Reporterstimmen potenzieren sich, indem sie miteinander reagieren; eine Suada entsteht, bei der es eigentlich egal ist, worum es geht.
31'53–34'15
„A statement by Senator Edward M. Kennedy“. Das Komplementärstück zur Reizüberflutung ist die salbungsvolle Rede. Ein Politiker wird persönlich und klingt dabei wie ein Pastor. Die rhetorisch abgemessenen Pausen haben einen ähnlichen Effekt wie die Pausenlosigkeit des vorher Gehörten. In gewissen Sinne ist Voice of America ja ein rührendes Zeitdokument von vorgestern. Dass einer extra nach New York reist, um lineares Fernsehen aufzunehmen, gehört zur medialen Steinzeit. Auch der akustische Gestus von 1969, den er festgehalten hat, ist gealtert. Lieder, Ansprachen, Werbespots – alles klingt heute anders. Und doch fühlen sich Kriwets Stücke so viele Jahre nach ihrer Entstehung nicht nach Museum an, sondern modern und aufregend. Denn er hat sein Material nicht nur angeschaut und in paar beispielhaften O-Tönen gezeigt. Er ist förmlich hineingekrochen, hat sich vom Material bestrahlen lassen, und dieser starken Energie, mit dem das Material auf ihn einströmt, hat er mit seiner extrem aufwändigen Sortier-, Schnitt- und Montagetechnik eine ebenso starke Energie entgegengesetzt. Auf diese Weise konnte das Material reagieren, sich transformieren und in die Zukunft weisen. Denn im Kriwet-Sound, dafür lassen sich viele Beispiele finden, klingt an, was später kommt.

Originalmanuskript von Kriwets Einführung zu "Voice of America"

Voice of America
Manifestation I. Hörtext VII
Von Ferdinand Kriwet
Regie: der Autor
Ton: N.N.
Produktion: WDR/SWF 1970
Länge: 34'26

Im Anschluss:
Auszug aus:
Welt hören – Europa hören
Von Hansjörg Schmitthenner
Produktion: HR 1988
Länge: 6'11

Ferdinand Kriwet, geboren 1942 in Düsseldorf, gestorben 2018 in Bremen, Schriftsteller und MixedMedia-Künstler. In den 1960er Jahren wurde er mit seinen innovativen Radioarbeiten, den "Seh- und Hörtexten", bekannt. 1975 Karl-Sczuka-Preis für "Radioball" (WDR 1975), 1983 Premios Ondas für "Radio" (Studio akustische Kunst, WDR/Radio France/Sveriges Riksradio 1983). Zuletzt "Rotoradio" (DKultur/WDR 2012 , Hörspiel des Monats Juli 2012).