Minigolf (The transparent cage)

Klangkünstler Alessandro Bosetti
Klangkünstler Alessandro Bosetti bei der Inszenierung des Monosignals. © Pierre Gondard
Von Alessandro Bosetti · 11.04.2014
Sieben Stimmen, ein Raum, ein Mikrofon. Keine Schnitte, keine Nachbearbeitung. Alessandro Bosetti komponiert Klangkunst ohne doppelten Boden.
Ein Guckloch verengt und schärft den Blick gleichermaßen. Wie könnte sich eine akustische Entsprechung anhören? Alessandro Bosetti begab sich auf die Suche und wurde fündig bei den Anfängen der Radiokultur mit all ihren Einschränkungen: In den 30er-Jahren gab es noch keine Effekte, keine Schnitte und vor allem keine Stereophonie. In einer sorgsam einstudierten Choreografie lässt Alessandro Bosetti sechs Mitglieder der Gruppe Neue Vocalsolisten Stuttgart um ein einziges Mikrofon tanzen: Ihr Ziel ist es, dem Monosignal Räumlichkeit zu verleihen. Das Radio als Guckloch. Wir senden die Adaption einer Versuchsanordnung auf der Bühne.
Live-Konzert: 05.04,2014, 20:00 Uhr, Theaterhaus, Südseite Siemensstrasse 11 70469 Stuttgart
Mit: Neue Vocalsolisten Stuttgart
Sarah Maria Sun, Sopran
Truike van der Poel, Mezzosopran
Martin Nagy, Tenor
Guillermo Anzorena, Bariton
Andreas Fischer, Bass
Anne-Laure Pigache, Stimme

Produktion: Deutschlandradio Kultur/Neue Vocalsolisten Stuttgart/ACSR Brüssel 2014
Länge: ca. 50‘00 (Ursendung)
(Aufzeichnung v. 05.04.2014)
Alessandro Bosetti, 1973 in Mailand geboren, lebt als Radioautor, Komponist und Klangkünstler in Berlin. Für Deutschlandradio Kultur: "arcoparlante" (2009), "Spinoza und der Fisch" (2011), "Wörterberge" (2012). Zuletzt: "Der Lügendetektor" (2013).
Egal auf welchem künstlerischen Feld sich Bosetti bewegt, treiben ihn drei Fragen um: Erstens - wie musikalisch sind Sprachen gebaut? Zweitens - wie und weshalb kommt es zu Missverständnissen, beispielsweise bei Übersetzungen? Drittens und nicht zuletzt untersucht Bosetti, wie das Auge das Ohr in die Irre führen kann und umgekehrt. Dieser Fragenkatalog bildete auch die Grundlage für das Stück Minigolf. In dem folgenden Interview mit Annette Eckerle erläutert der Künstler seine Herangehensweise.
Annette Eckerle: Herr Bosetti, was hat Sie zu Ihrem Stück Minigolf inspiriert? Gibt es vielleicht einen literarischen Text als Vorlage, ein interessantes Ereignis oder eine ganz bestimmte ästhetische Idee die am Anfang stand?
Alessandro Bosetti: Als hauptsächliche Inspirationsquelle für Minigolf und für meine früheren Hand Made Radio-Workshops* habe ich die Art, Radio zu machen benutzt, wie sie in den 1930er Jahren üblich war. Eine besondere Rolle hat für mich Orson Welles Mercury Theater on the Air gespielt. Das war eine wöchentliche Serie von Live-Hörspielen, die vom CBS im Jahr 1938 ausgestrahlt wurde. Mich faszinierte die Vorstellung, nur mit dem Einsatz eines einzigen Mikrofons und ohne die Möglichkeit, etwas zu bearbeiteten oder mit elektronischen Mitteln zu manipulieren, eine ganz eigene Klangwelt zu entwickeln. Damals, in den 1930er Jahren, wurde alles in Echtzeit gemacht, die meiste Zeit einfach vor einem sogenannten Bändchenmikrofon. Sowohl die Musik wie auch die Geräusche und die klanglich imaginierten Räume mussten aus der begrenzten Perspektive eines Monosignals erzeugt werden. In der berühmt berüchtigten Produktion War of the Worlds (Der Krieg der Welten) beispielsweise wurde der Wechsel von Außen- zu Innenräumen einfach durch die genau getimte Annäherung und Entfernung zu einem Mikrofon erreicht. Damals hatte das tatsächlich den Effekt, dass viele Leute dachten, es handle sich um eine reale Reportage, weshalb diese Radiosendung in weiten Teilen der USA Panik auslöste.
Mittlerweile hat sich unser Medienverständnis natürlich stark verändert, nichts destotrotz fasziniert mich diese Magie, die das Radio in seinen frühen, technisch so beschränkten Jahren ausüben konnte. Für Minigolf habe ich diese Radiotechnik, die damals Standard war und heute eine Sache der Wahl ist, in eine zeitgemäße, sehr viel abstraktere Form übersetzt, eingepasst in die Gesetzmäßigkeiten meiner künstlerisch-schöpferischen Welt.
Als weitere Inspirationsquellen für Minigolf habe ich die Schriften von Peter Szendy benutzt, insbesondere seine Publikation Sur écoute. Esthétique de l'espionnage (Éditions de Minuit, 2007). In dieser Abhandlung wird beschrieben, wieviel von der Praxis des Belauschens in unserer Art und Weise zu hören verankert ist. Wieviel Musik hören wir also, wenn wir Musik hören und wieviel davon ist eine Art des Belauschens? Und inwieweit belauschen wir uns, wenn wir Musik hören? (Anm. der Red.: Szendy ist ein französischer Philosoph und Musikwissenschaftler, Jahrgang 1966.)
Eigentlich nehmen wir Musik ohnehin wie durch eine stecknadeldünne Röhre wahr, also einen recht winzigen Durchgang. Wenn man so will, verhält es sich mit unserem Ohr wie mit einem Panoptikum, wie mit einem eng gefassten kulturellen Paradigma, wie mit einem Mono-Mikrophon, oder, metaphorisch gesprochen, wie mit einem Minigolf-Loch.
Darüber hinaus gibt es noch viele andere, für Minigolf inspirierende Beispiele, aber um es kurz zu halten, möchte ich nur noch auf die frühen Experimente von Dan Graham (Anm. der Red.: Graham ist ein US-amerikanischer Bildhauer, Konzept- und Videokünstler, Jahrgang 1942) mit Handkamera-Videoschleifen hinweisen. Performances wie Performer/Audience/Mirror oder Past/Future split attention sind wundervolle elegante Beispiele für Arbeiten, in denen das Beobachten und beobachtet werden - und für mich ist das übertragbar auf das Hören und gehört (belauscht) werden - zu einer einzigen Aktion, zu einem einzigen Prozess verschmelzen, der in äußerster Ökonomie der Mittel vor sich geht, nur mit Menschen, bisweilen mit einem Spiegel im übertragenen Sinn.
Annette Eckerle: Untersuchen Sie in "Minigolf das Prinzip des gleichnamigen Spiels oder benutzen Sie den Begriff "Minigolf" nur als Metapher?
Alessandro Bosetti: Ja, schon, in einem weit gefassten Sinn bin ich davon ausgegangen. Aber eigentlich ist es mehr oder minder eine Metapher für mich, ja sogar weniger, eher eine Gestalt oder ein Symbol, das zart durchscheint. In meinen Arbeiten gibt es immer eine Menge zu sprechen - Worte, Geschichten - und das meiste davon kommt irgendwie von irgendwo, eigentlich aus dem Nichts. Ich bin fasziniert von spontanem Sprechen, von völlig unerwarteten Gedankenassoziationen, von schwer zu entziffernden Allegorien. Minigolf also - woher, um alles in der Welt, kommt diese Idee? "Minigolf" das war ein Ding, ein Wort, das mir beständig durch den Kopf geisterte. Es hatte irgendwie einen Platz in meinem Denken aber keine bestimmte Bedeutung, das war zugleich amüsant und beunruhigend. Das Problem dabei ist, wenn man einmal damit anfängt, diese Allegorien (Sprachbilder) lange genug nach ihrem Ursprung zu befragen, Gründe dafür zu finden, werden sie irgendwann Antworten dafür geben, weshalb man sie gewählt hat, dennoch wird man nicht verstehen, was Minigolf ist.
Annette Eckerle: Woraus besteht das musikalische Material von Minigolf?
Alessandro Bosetti: Aus Sprache. Im Allgemeinen destilliere ich die musikalische Struktur in meinen Arbeiten aus linguistischen Strukturen, aus gesprochener Interaktion. Menschen spionieren einander gegenseitig aus, so als würden sie durch ein Schlüsselloch sehen und dann darüber berichten. Menschen sprechen eigentlich ununterbrochen. Und hier, mit der Möglichkeit, mit diesen wundervollen Sängern zu arbeiten …. Ein großer Teil dieser Arbeit dreht sich um Sprachmelodien, dabei geht es um das Aufsuchen des instabilen Zwischenraums, der sich zwischen dem Sprechen und Singen befindet und darum, dafür einen eigenen Raum zu finden. Und es geht um das Begreifen dieser sprachlichen Verslehre, der schließlich eine neue melodische Temperatur zugewiesen wird. Das ist in der Tradition von Janáček gedacht, die fortgesetzt wurde von Steve Reich, Renè Lussier oder Robert Ashley.
Annette Eckerle: Weshalb haben Sie als Bild für das Auditorium einen Minigolfball gewählt?
Alessandro Bosetti: Habe ich das? Ich glaube nicht. Es gibt keine Bilder für dieses Stück - nur ein Loch. Das Publikum sollte wissen, dass das, was es während der Aufführung sieht (und hört) kein Bild ist, sondern nur ein Loch, ein winziger Punkt, so etwas wie ein Schlüsselloch oder eine Kamera Obscura, um an ein älteres sehr gutes Beispiel dafür zu erinnern. Man sieht/hört also wie durch ein röhrenartiges Loch, aus dem alles herauskommen wird. Wenn man so will, sind die engen Passagen, durch die wir bei Geburt und Tod hindurch müssen für unsere Art zu hören paradigmatisch. Diese Erfahrungen setzen letzten Endes die Grenzen dafür, wie wir Zeichen und Klänge lesen und verstehen.
Das Publikum von Minigolf muss sich zunächst mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es in diesem Stück nichts zu sehen gibt. Das Ensemble ist zwar da, aber versteckt. Und der Klang ist ein Monoklang, der aus einem einzigen Lautsprecher tönt. Zuerst ist das wohl eine ziemlich frustrierende Situation, die vom Publikum eine aktive Anpassung fordert. Aber das kann zu einer sehr lohnenswerten Erfahrung werden.
Minigolf ist ein im strengsten Sinne akusmatisches Stück, ähnlich zu verstehen, wie die Lektionen des Philosophen Pythagoras, die dieser stets hinter einem Vorhang gab, um das Hören und das Verständnis seiner Hörer nicht durch visuelle Eindrücke zu stören. Das ist ganz anders als in der akusmatischen Musik, die in der Tradition der französischen Musique concrète steht. In dieser gibt es keine vorproduzierten Bänder oder elektronische Sound-Transformationen, an der nur ein Mikro und ein Lautsprecher beteiligt wären. Aber ich denke noch immer, dass eben dies die perfekte akusmatische Musik ausmacht.
Annette Eckerle: Ist Minigolf streng komponiert oder gibt es auch improvisatorische Freiheiten, vielleicht für die Performerin?
Alessandro Bosetti: Beides ist der Fall. Es gibt ausgedehnte streng komponierte Passagen, die als Module durch das Stück wandern ähnlich wie einer Talk-Show, die sehr offen und zwanglos in ihrem Ausgang angelegt ist. Wie so oft in radiophonen Situationen ist es für den Hörer nicht immer einfach, herauszufinden, was vorab fixiert wurde und was genau in diesem einen Moment entsteht.
Mit Blick auf meine in den beiden vergangenen Jahren ausgesprochen vokal komponierte Musik, in der ich mich mit einer Art von Neo-Madrigalismus auseinandergesetzt hatte, war es auch sehr schwer für mich, mich hier nicht wieder von den intrikaten Polyphonien eines Gesualdo oder Sciarrino verführen zu lassen und statt dessen den Traum von einer polyphonen Musik zu verwirklichen, die dem verwickelten Geschwätz an einem Esstisch oder ähnlichem gleicht. Über diese Schwelle, davon war ich nach einigen Versuchen überzeugt, musste ich mit der Ungeschicklichkeit meines eigenen Schreibens hinwegkommen, um so die Dinge sehr viel einfacher zu machen.
Annette Eckerle: Welche Rolle hat die Performerin Anne Laure Pigache in der Aufführung von Minigolf? Steht sie während des Stücks in einem musikalischen Dialog mit den Neuen Vocalsolisten?
Alessandro Bosetti: Sie ist gewissermaßen das Radio im Radio, eine phantasmatische Figur, die auch wie eine Störung, wie eine Einmischung wirken kann. Sie ist sozusagen wie ein Wasserhahn, aus dem die Gedanken wie Wasser strömen, wie wir sie alle in unseren Köpfen mit uns herumtragen. Menschen, die einmal versucht haben zu meditieren, wissen wie schwierig es ist, diesen Strom zu unterbrechen. Es gibt immer wieder neue Gedanken, die irgendwoher auftauchen, als wäre da ein Radio im Kopf installiert, das einfach nie aufhört zu senden.
Annette Eckerle: Ist Minigolf irgendeiner Kategorie zuzuordnen - Hörstück, Hörspiel, akustisches Theater?
Alessandro Bosetti: Wahrscheinlich ist es etwas von allem und wie bereits erwähnt, ist Minigolf vor allem ein akusmatisches Stück Musik. Aber im Grunde kann ich mit Kategorien nicht all zugut umgehen. Dazu kommt die Tatsache, dass zeitgenössische multimediale Formen offenbar um eine vollständige Sättigung der sensorischen Landschaft bemüht sind: 3D, surround, simulierte Realität oder auch zweite Realität - all das sind Formen, die dazu tendieren, alle Sinne zu beanspruchen und so dem Auditorium wenig Freiraum für eigene Phantasie zu lassen.
Ich bin nun nicht gerade ein großer Reduktionist, aber ich bin im Gegensatz dazu oft von Arbeiten fasziniert, in denen ein perzeptives Werkzeug vermisst wird, viel eher als weiteres Hinzuzufügendes. Ich denke dabei an einen meiner Lieblingsfilme, Russian Ark von dem russischen Regisseur Alexander Nikolajewitsch Sokurow, in dem es keine Schnitte gibt. Der gesamte Film ist in einem Zug gefilmt, in extrem langsamen Kamerafahrten. Die Betrachtung dieses Films war eine Herausforderung für mich. Etwas fehlte und doch wurde ein Raum für die aktive Beobachtung geöffnet. Zunächst war ich desorientiert, fast ein wenig seekrank. Ich fragte mich immer "wann kommt der Schnitt, wann lässt mich Sokurov endlich gehen?". Aber irgendwann erklärte ich mich damit einverstanden und ließ mich auf diesen Ritt ein. Es war wirklich gut. (Anm. der Red.: Der Film wurde 2002 als eine einzigartige Zeitreise durch russische Zeit- und Kunstgeschichte im Winterpalast in St. Petersburg gedreht, der jetzt Teil der Eremitage ist.)
* Radio-Workshops über die Verwendung von frühen Radio-Mono-Übertragungstechniken, begonnen bei den Phonurgia Nova Radio-Sommerkursen in Arles im Jahr 2012.