Hörstück mit sizilianischen Sprechgesängen und archaischen Geschichten

Gesänge des Charon

Der Cunto-Performer Gaspare Balsamo. Hörspiel: "Gesänge des Charon" Koproduktion Deutschlandfunk Kultur/HR2 Kultur 2017
Der Cunto-Performer Gaspare Balsamo. © Deutschlandradio / Rainer Lind
Von Werner Cee · 07.01.2018
Oktober 1943. N’drja ist weit gegangen, über die Berge Kalabriens, entlang der Küste, viele tausend Schritte. Fort vom Krieg, fort aus der Fremde, nach Hause.
Die Fähren nach Sizilien sind von den Amerikanern versenkt worden, doch im Landstrich der Feminoten bietet ihm die sirenengleiche Hure Ciccina Circe eine Überfahrt in ihrer Barke an. Die brennende Sonne ist Heimat. Das Meer zwischen zwei Meeren ist Heimat. N’drja erreicht sein Dorf, doch nichts ist mehr wie früher.
"Mein Vater hat mich nicht erkannt, als ich ins Dorf gekommen bin, und meine Mutter ist tot, am Grunde des Meeres. Vater, all diese Geschichten, was erzählst du denn für Geschichten, hör auf, Vater ... "
Diese Überfahrt mit ihren Anklängen an die Begegnung mit Charon, dem Fährmann, der ins Jenseits geleitet, ist Leitmotiv des Stückes. Die Welt gerät im Krieg aus den Fugen, die Menschen verlieren ihre Orientierung zwischen Isolation, Kriegstrauma, Lüge, Vorurteil und Fremdheit.
Das Hörspiel zeichnet das Bild des Südens, in dem sich zahlreiche Facetten des menschlichen Lebens widerspruchsfrei verbinden: Archaischer Mythos mit alltäglicher Banalität, tiefe kulturelle Wurzeln mit derber, wilder Burleske, Göttliches und äußerst Menschliches. Es schafft klare akustische Bilder und Tagträume. Epische Gesänge bieten Orientierung, wobei die Semantik der Narration nicht immer durch Worte, sondern auch in Klang, Musik und Geräusch fortgeführt wird. Die Sprache selbst verliert ihren vertrauten Charakter, ihre Verständlichkeit, reduziert sich auf Geste, Klang. Über die ausufernden sizilianischen Cunto-Improvisationen von Gaspare Balsamo und den Aufnahmen archaisch-expressiver Stimmen der "Devoti" aus Catania wird die literarisch/kunstvolle Sprache wieder in ihrem Ursprungsland "ausgewildert".
Und auch die Musik zerfällt in Materie: Die Musik der Kirchenorgel, eine Instanz der abendländischen Kultur, verliert ihre Struktur, zerfällt in Klangflächen, Geräusche, komplexeTonalität diffundiert in Schwebungen, wird zunehmend dissonant in ihrem fortschreitenden Diminuendo.

Ursendung
Von Werner Cee
Übersetzungen: Moshe Khan, Bettina Obrecht
Regie, Komposition, Field-Recordings: Werner Cee
Mit: Gaspare Balsamo (Sizilianischer Cunto – Sprechgesang und Improvisation), Sandra Borgmann, Gerd Wameling
Musiker: Norbert Grossmann (Kirchenorgel)

Mit Dank an Giacomo Cuticchio (Ausschnitte aus CLITENNESTRA MILLENNIUM / MARCETTA REGINALE / GIARDINI DEL CAIRO) und Giovanni Apprendi (Tamburello) für ihre musikalische Unterstützung und tätige Hilfe bei den Recherchen.

Ton: Martin Eichberg
Produktion: Deutschlandfunk Kultur/hr2 Kultur 2017

Länge: 89'11

Werner Cee, geboren 1953 im hessischen Friedberg, ist Komponist, Klangkünstler, Hörfunkautor und Regisseur. Er studierte Malerei, arbeitete als bildender Künstler und war in der Rockmusikszene aktiv. In den letzten zwanzig Jahren sind mehrere akustische Großprojekte entstanden. Werner Cee schafft Verbindungen zwischen visueller und akustischer Kunst. Für "Winterreise" (HR 2010) erhielt er den Prix Italia. Zuletzt für Deutschlandradio Kultur 2016: " KLIMA|ANLAGE", eine begehbare Hörinstallation zur Verklanglichung von Klimadaten. Werner Cee lebt mit seiner Familie in Nordeck/Stadt Allendorf.