Hörspielkritik

Böse Geister, Zyniker und ein Hoffnungsschimmer

Thomas Bernhard mit Hipster-Brille (Fotomontage)
"Morgen Augsburg" collagiert Themata aus Thomas Bernhards Stücken, Erzählungen und Briefen © picture alliance / Fotomontage Deutschlandradio
Von Stefan Amzoll · 28.05.2019
Beängstigend aktuell erscheinen die Geister in dem Hörspiel "Morgen Augsburg" nach einem Text von Thomas Bernhard. In "Peace Island" wird die Betriebsamkeit einer NGO, die für Ebolakranke da ist, geschildert. Mit der Autorenproduktion "Stocktaub" macht Helmut Oehring eine stille Welt voll Lautheit hörbar.
Hörbeispiel "Morgen Augsburg"
Drei hochinteressante, in der Machart völlig verschiede Hörspiele stehen heute zur Kritik. Das Erste: "Morgen Augsburg", eine Produktion des Hessischen Rundfunks von und mit Thomas Bernhard, das Zweite "Peace Island" von Reiner Merkel, produziert vom NDR, schließlich "Stocktaub", Sie hören richtig "STOCKTAUB", von Helmut Oehring in einer Autorenproduktion für den DLF Kultur.
Aus gegebenem Anlass sei das erste Stück - "Morgen Augsburg" - etwas ausführlicher behandelt.
Es ist kalt. Er friert in der Schweiz, in der die finstere Stadt Chur liegt. Schimpf und Schande über die Stadt, grummelt der Autor, eine der Ich-Figuren im Stück, mit ihrem Hochgebirgsstumpfsinn, ihren schlechten Würsten und Weinen. So zu vernehmen nach etwa 9 Minuten Hör-Zeit.
Hörbeispiel "Morgen Augsburg"
"Morgen Augsburg". Das klingt wie: Liebe, schöne Stadt, welch’ Freude, dich begrüßen zu dürfen! Nichts dergleichen. Augsburg ist nur ein Ort unter vielen im deutschsprachigen und europäischen Raum, worin die Stimmen des Hörspiels ihren Kampf ausfechten, nur einer der Haltpunkte im Bewusstsein desjenigen, der sich seine Zeit mit Schreiben vertreibt und bitter über die Welt, also auch über allseits bewunderte Städte, über Alpenidylle, Seebäder, Burgendörfer, Waldsiedlungen und deren Bevölkerungen kritisch nachsinnt. Über Grauburg, Unterach, Chur, Trier, Althaussee, Dinkelbühl, berüchtigt wegen eines verdrängten Verbrechens von 1944, sodann Osnabrück, Ludwigshafen, Städte, die er nicht mehr besucht, geht der akustische Ritt bis nach Westeuropa. Nach London etwa und in besagte Schweiz, wo er nie wieder hinwill, oder Lissabon, wo die Krankheit regiere.
"Morgen Augsburg" collagiert Themata aus Thomas Bernhards Stücken, Erzählungen und Briefen. Verknappt und pointiert als Hörspiel geformt - so die Ankündigung. Die Hörsieleinrichtung schuf Ruthard Stäblein unter Verwendung von "Städtebeschimpfungen" in der Regie Götz Fritzschs 2018 und der Lesung "Die Mütze" von und mit Thomas Bernhard von 1969. Eine intelligente, eingreifende Textur entstand.
Hörbeispiel "Morgen Augsburg"
Soviel Schimpf wie durch diesen hellwachen Schriftsteller haben Städte und deren Bewohner wie frei flanierendes Literatur - und Theatervolk nie abbekommen. Gerecht der Herr? Ungerecht oder ganz ohne Recht? Drüber mögen die Götter streiten. Jener 1931 in den Niederlanden geborene Poet, - er starb 1989 - reichte ziemlich zuletzt seinen Lesern noch diesen Satz:
"Ab und zu gestatte ich mir noch eine Erregung, damit ihr nicht glaubt, ich bin schon tot."
Abrechnung mit dem reaktionären Österreich
Solche Erregung in gebündelter Form bannt das Radio-Stück, indem es Bruchstücke rasant zu einer Einheit schmiedet. - "Morgen Augsburg" ist, recht gehört, eine Abrechnung mit dem reaktionären Österreich. Dreh - und Angelpunkt ist die Städtebeschimpfung.
Der Text erinnert an Josef Bierbichlers "Mittelreich", der Roman von 2011 reißt eine ganze Epoche österreichischer Verdrängungsgeschichte auf. Mehr noch an Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung", die Claus Peymann 1966 in Frankfurt uraufführte und zum dauerhaften Skandalon machte. Die Zensurkeule schwang seinerzeit über Bühne und Film, Konzert, Oper und Kabarett. Die Verhältnisse waren politisch so reaktionär, dass besseren Bürgern das Messer in der Tasche aufging, fiel nur der Name Adenauer oder Globke. Sind die heutigen Zustände weniger reaktionär?
Hörbeispiel "Morgen Augsburg"
Ähnlich die Situation in Österreich. Das war einmal Teil eines Großreichs mit Freunden und Feinden, es führte Kriege mit Millionen von Toten, um sich an der Welt zu laben. Die Mahlströme dieses Imperiums, unterirdische wie oberirdische, klingen noch, sie wirken fort. Deutschland und Österreich, welch eine Macht im Bunde Europas. Das Stück ruft herauf solche Klänge, zeigt an, was sich da einst versammelte und heute wieder laut brüllt. Der Schoß zwischen Themse - Donau - Po ist fruchtbar noch. Die Straches und Gudenus, wenn auch angezählt, Abkömmlinge der Sorte der Bauern, Holzhauer und Fleischacker, wie sie das Hörspiel modellhaft markiert, solche Typen sind wieder wer. "Morgen Augsburg" ist ein Tanz der allgewärtigen Gespenster und darum hochaktuell.
Hörbeispiel "Morgen Augsburg"
Kreuz und quer führt die Collage von einem Ort zum nächsten. Sie verraten sich wechselseitig in ihren Grundcharakteren. Wo die Erinnerung des Autors auch ankert, sein Urteil fällt niederschmetternd aus. Die Städte erscheinen ihm wie Ungeheuer. Unerbittlich und komisch, schamlos und vermessen tritt ihre Schwärze ins Licht. Was frag ich nach der Welt? Sie ist heillos, die Menschen sind schlecht, schlecht gemacht worden in dem, was herrscht, und nicht zu bessern. Wodurch? Ein Stück Weltverneinung, anders als bei Molieres "Le Misanthrope", dessen Held menschliches Verhalten an seinen übersittlichen Idealen misst und darum fehlgeht. Thomas Bernhard, messerscharfer Analytiker der Verhältnisse, klagt keine Ideale ein, er ist Realist, er beschreibt den erreichten Grad der Depravation des Menschen und wo die Nester dafür liegen. Das Hörspiel bildet das ab. In traditioneller Dramaturgie. Es braucht keine Modernismen der Sprech - und Klangproduktion.
Mit Peter Simonischek und Michael König
In "Morgen Augsburg" mit den Stimmen von Peter Simonischek und Michael König spielt der Autor mit oder besser seine Erzählung "Die Mütze", die er 1969 gelesen hat und die Leute staunen machte, um wieviel die Odyssee einer Mütze dazu beitragen kann, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Die Story: Ein Mann findet eine gewöhnliche Schildmütze und sucht emsig nach dem, der sie verloren haben könnte. Jedoch sooft er nach ihm fahndet, er findet den Besitzer nicht. Wie sollte er auch, wo doch alle, - die Bauern, die Holzhauer, die Fleischhacker und die übrigen Bewohner - ein und dieselbe Schildmütze tragen. Das Ding, das er aufgesetzt hat, um es ringsum zu zeigen, lastet schwer unterdes, es beherrscht ihn schon, überwältigt ihn schier.
Eine Front von Schildmützenträgern, uniformiert wie in besten Tagen, steht gegen die tragische, vergebliche Müh’ eines Einsamen, Verzweifelten, der glaubt, es gäbe nur diese eine schmutzige, fettbeschmierte Mütze und er müsse dieselbe dem Besitzer überbringen. Was bleibt ihm anderes, als der Welt wie der zahnutende Clown zuzurufen:
"Alle sind gegen mich ... " (Hörbeispiel)
Es ist Bürgerpflicht, das Hörspiel anzuhören. Die Ursendung von "Morgen Augsburg" kommt am Sonntag, den 16. Juni 2019 im Programm von HR 2.

Hörbeispiel "Peace Island"
In anderer Art ein Wurf das Hörspiel "Peace Island - Go Ebola Go" von Rainer Merkel, klangstark inszeniert von Detlef Meißner. Eine dreiköpfige Gruppe prägt die Szenerie, entsandt im Auftrag einer NGO, Hilfe zu leisten bei der Bekämpfung der Ebola-Epidemie im afrikanischen Liberia. Ihr gehören der Arzt Marius an, dessen Freund und Assistent Randolf und die Filmemacherin Martha.
"Peace Island" klingt wie ein Film, ein Hör-Film. Der suggeriert permanent Bildhaftes, äußerlich Sichtbares. Das "Royal Grand Hotel" etwa, Autofahrten, Räume des Elends, Krankenhaus-Atmosphären, Vorgänge an medizinischen Kontrollpunkten oder am Flugplatz. Das alles stört nicht, im Gegenteil, es konstituiert Realismus.
Geschäftsmäßiger Betrieb bei der NGO
Die Regie schlägt gleichermaßen mit den Darstellern Antonia Biller, Rafael Stachowiak und Björn Gabriel einen kalt realistischen Kurs ein. Kein Schmu gibt es, keine Schminke. Es geht darum, klaren Auges eine erkannte Situation zu zeichnen. In der Rolle sind die drei SprecherInnen glänzend. Was die Gruppe aus Angst und Feigheit sich auch zusammenphantasiert und an Liebe und Vertrauen vergeblich aufzubringen sucht, es gehört zum Realismus der Sache. Die Sprechtonfälle, auch die leisen klingenden, sind befremdlich und latent ruppig. Der knarrige, coole Slangs ist gefragt. Herzensgefühle zu zeigen, erlaubt sich niemand. Echte Teambeziehungen in todesschwangerer Atmosphäre aufzubringen, unmöglich. Keine Helden schalten hier. Der Betrieb geht rein geschäftsmäßig vonstatten, verbunden mit hundert Zweifeln und sinnlosen Streits und blöden Dialogen. Wirklichkeit bei einem Hilfseinsatz im Rahmen einer NGO, ihrerseits Auftraggeber hat, die offenkundig gut bezahlen.
Der größte Zyniker der Herren ist Randolf, er verkörpert den Typ des neoliberalen Abenteurers, zu allem fähig und unfähig, wirklicher Liebe völlig abhold, nicht scheuend davor, mit gefälschten Medikamenten Handel zu treiben, was eine kurze Replik offenlegt. Professionelle, ernsthafte Hilfe, mitnichten. Schien wohl auch nicht mehr nötig, nachdem die ins Lächerliche gezogenen kubanischen Ärzte abgewandert seien, wie die zwei Männer erzählen, in Wirklichkeit freilich, und das ist verbürgt, weggingen, um sofort am nächsten Gefahrenpunkt Hilfe zu leisten, also am gegebenen Ort schon manche Rettung und Betreuung der Kranken durch sie erledigt worden war. Was zu verschweigen sich politisch geziemte.
Einzig Martha, - sie arbeitet an einem Film über die Situation vor Ort und steckt voller Gewissenskonflikte - vermag letztlich dem miesen Geschäft zu entrinnen. Zuversicht tankt sie, indem sie sich Kindern ernsthaft widmet. Neben sich sieht sie Fotografen und Studenten, alle dienstverpflichtet, den epidemischen Schrecken einer Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Martha, so nahe sie auch dem verkommenen Haufen zu stehen scheint, wahrt ihr Gesicht. Fassungslos erlebt sie die Frau, von deren Kindern eines an Ebola gestorben sei, wie man ihr einredet, die aber in Wirklichkeit alle ihre sechs Kinder verloren hat.
"Alle ... ja, ich glaube, es ist besser." (Hörbeispiel "Peace Island")
Das Stück flicht Märchenmotive ein, allerdings nur halbherzig, etwa jenes mit der Prinzessin im blutenden Grab oder in anderer Art das Ebola-Lied, von Kindern gesungen, das Martha hört und unbedingt aufnehmen will. Wozu? Fragen ihre Begleiter. Allzu herbeigeholt wirken ihre Anwandlungen, dass Supereiche wie Zuckerberg helfen könnten, das Höllenschiff zu verlassen. Trügt nicht alles, tritt der dann auch kitschumflort auf. Martha sagt vor der Abreise zu den Männern:
"Schaut, dass ihr hinwegkommt!". Eine furchtbare Zeit der Agonie gehe für sie zu Ende.
(Hörbeispiel "Peace Island")
"Peace Island" bringt der NDR-Kultur am 19. Juni um 19:06 Uhr als Ursendung.

Außergewöhnlich und politisch nicht minder hochmotiviert als die vorigen Arbeiten das Hörstück "Stocktaub" von Helmut Oehring, vollständiger Titel "Stocktaub oder Euridike und die unkontrollierbare Sehnsucht, den Himmel zu berühren".
Es gemahnt an die gehörlosen Kinder jener Familien, die nach Europa gekommen sind, weil sie zu Hause um ihr Leben bangen mussten. Deutsche Helfer suchen den neuen Umständen der Kinder Klang zu geben. Sie sollen raus aus ihrer Dunkelheit. Doch sie sind doppelt stigmatisiert, klärt das Stück auf. Einmal kommen sie aus Ländern, wo Gehörlose nicht nur eine Minderheit, sondern eine diskriminierte Minderheit sind, wo die Gebärdensprache überhaupt keine Anerkennung findet, was den Selbstwert der Kinder untergräbt. Zum anderen glauben sie, dass auch ihre neue Welt taube Kinder nicht wünscht. Sie möge ja selbst die Hörenden nicht. Eine große Überraschung nun, hier zu erfahren: Ihr könnt eure Hände gebrauchen und euch darüber mitteilen. Ein Junge berichtet, er hätte schon ein halbes Jahr in der Klasse gesessen und niemand habe bemerkt, dass er taub ist. Aber bald würden sie lernen, so ein kundiger Helfer, ihre Nöte und Ängste zu kommunizieren, was befreiend wirke.
"Wir haben schon gedacht ... Sohn taub ist." (Hörbeispiel "Stocktaub")
Dazu tritt in "Stocktaub" der Dialog zwischen dem Komponisten - Oehring selbst entstammt einer Gehörlosenfamilie und ist darum hochsensibilisiert - und seiner langjährigen Gebärdensängerin Christina Schönfeld. Eine "stille Welt voll Lautheit" öffnet sich. Oehring bezeichnet sie als große Künstlerin, als politische Aktivistin und scheut sich nicht, sie auf jene unfassliche Welt hin zu befragen. Parallel erzählt eine syrische Mutter unversehens ihr Schicksal in arabischer Gebärdensprache, rückübersetzt ins Deutsche. Was ist Hörbarkeit? Der junge gehörlose Araber schildert im gleichen Modus seinen Fluchtweg durch halb Europa.
Wieder Raumwechsel: Oehring will von der Sängerin nun wissen, wie sie sich fühle bei dem Mythos von "Orpheus und Eurydice", wenn sie ihn in Gebärden darstellt. Auf seine Fragen kann sie nur physiognomische, über Körper, Mund, Hände, Finger sich artikulierende Antworten geben, die sie selbst nicht hört. Des Autors Amt ist es selbstredend, deren Sinn zu übersetzen und im Stückverlauf hörbar in Position zu bringen.
Hörbeispiel "Stocktaub"
Wie anderes symbolisches Material auch, geistert jener Orpheus-Eurydike-Mythos mehrmals durch die klangdurchwirkte Mannigfaltigkeit der Räume, hergestellt von Supertonmeister Torsten Ottersberg, langjähriger Mitarbeiter des Autors. Das wiederkehrende Prinzip gibt der ganzen Komposition Halt. Rückbezüge sind sinnfällig eingebaut.
Wiederholt sprechen und singen Kinder, allesamt Betroffene, aus ihrer Heimat geflohene und darum Hauptpersonen im gegebenen Weltverhängnis, das ihnen nichts Gutes will, wären da nicht Funken von Hoffnung. Eurydike endet in der Todeswelt. Ihre Stimme übersetzt die Sängerin Christina Schönfeld so, als würde sie extrem weinen und schreien:
"Plötzlich öffnete sie ihre Arme …" (Hörbeispiel "Stocktaub")
Die Kinder des Anfangs sterben nicht, sie melden sich heiter wieder. Sie stammen aus dem Iran, aus Afghanistan, dem Irak und anderen geplagten Ländern und wissen fortan Gutes zu berichten. Unter der Obhut ihrer Helfer haben sie an beispielhaften Orten in Deutschland endlich eine gemeinsame Sprache gefunden.
Wahrhaft einzigartig, diese bis ins Letzte durchgehörte, bis in die letzten Zellen humane Autorenproduktion.
Hörbeispiel "Stocktaub"
Am 7. 06. kommt "Stocktaub" von Helmut Oehring in der Reihe "Klangkunst" von DLF Kultur als Ursendung. Beginn: 00:05 Uhr

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