Gastkritik

Die Hörspiel-Premieren im Mai

10:39 Minuten
Buchstaben scheinen, Spiralen bildend, vom Himmel zu fallen.
. © unsplash/Nathaniel Shuman
Von Max von Malotki · 27.04.2021
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Max von Malotki hat die Hörspielpremieren des Monats Mai durchgehört und stellt seine ganz persönliche Auswahl vor.
Während der Corona-Krise habe ich zwei konkurrierende Tendenzen entwickelt. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Zum einen bin ich darauf aus, mich abzulenken, mit guten Geschichten. Ein bisschen Eskapismus. Menschen in einer anderen Welt. Mit anderen Problemen, anderen Rätseln, die sie lösen müssen. Und wir dürfen dabei sein, während wir die aktuelle Weltlage ein bisschen vergessen. Zum anderen merke ich aber auch, dass ich mich - wenn ich schon mal zuhause rumhängen muss - gerne mit etwas Wichtigem beschäftigen möchte. Etwas mit Tiefgang. Mit Anspruch. Das vielleicht etwas mehr Arbeit erfordert. So gar nicht eskapistisch. Eher konfrontierend mit einer harten aber wichtigen Realität. Diese beiden Herzen schlagen in meiner Brust. Und ich habe Ihnen für heute zwei Hörspiele mitgebracht, die diese beiden Bedürfnisse bedienen. Etwas unterhaltend Spielerisches und etwas Historisches, das einen im Innersten trifft.
Fangen wir mit der Unterhaltung an. Das erste Hörspiel hat genau meinen Geschmack getroffen, den ich bemitleidenswerterweise in den 90er Jahren entwickelt habe. Ich war ein großer Fan der Fernsehserie "Akte X". Ein großer Fan dieses Duos: Mulder und Scully. Zwei FBI Agenten, die sich ungewöhnlichen Fällen und sogenannten Cold Cases gewidmet haben. Wie sehr ich das mochte, habe ich kürzlich noch mal gemerkt, als alle Staffeln bei einem Streaming-Dienst rausgekommen sind. Und ich musste mich selbst dabei beobachten, wie ich vollkommen unironisch die Behauptung aufgestellt habe, "Akte X" sei gar nicht so schlecht gealtert. Sie können sich denken, ich habe eine leicht romantische Grundhaltung zu Ermittler-Pärchen und Cold Cases mit einem Agententwist.
Das Hörspiel "Spell" von Stephan Krass hatte mich sofort.
Ausschnitt "Spell"
"Hi Alexis, willkommen zurück in der Cold Case Abteilung. / Was führt uns diesmal zusammen, Ramon? / Manchmal wirbelt ein Schneesturm die Akten durcheinander und bringt Verborgenes und Ungelöstes zutage. Und wir dürfen uns dann darum kümmern. Hör zu… Am 6. Juni 1966 ist in der Wiener Pressgasse ein Mann umgebracht worden. Am selben Tag soll in der Nähe einer polnischen Kleinstadt ein Buchstabe vom Himmel gefallen sein. Offenbar war es ein F. Der sechste Buchstabe des Alphabets. Aber niemand hat etwas gesehen, oder gehört."
Achja, das habe ich vergessen zu erwähnen. Ja. Es gibt eine große Spionagegeschichte, mit beispielsweise mysteriösen Zahlensendern im Radio, die zur verschlüsselten Kommunikation mit Agenten im Ausland gedient haben.
Ausschnitt "Spell"
"Zahlen und Radio. Schön."
Aber das Hörspiel "Spell" ist auch voller Sprachspielereien. Eben mit recht phantastischen Buchstaben, die vom Himmel fallen, aber auch voll mit Anagrammen, Palindromen. Das war auch zu erwarten. Autor Stephan Krass ist bekannt für seine Liebe zu Buchstabenschiebereien. Müssen Sie nur mal auf seinen Instagram-Account gucken. Man findet eine Menge Bilder von ausgeschütteten Scrabble-Plättchen. Und im Poesieautomaten im Museum der Moderne in Marbach ist auch ein Anagramm-Gedicht von ihm.
Ausschnitt "Spell"
"Er wollte eben jeden Buchstaben in Betracht ziehen."
Ich habe mich beim Hören dabei erwischt, wie ich selbst noch mal den Song von Freundeskreis zitiert habe. Du bist von vorne wie von hinten A N N A. Dann befinden wir uns auf einmal in literaturwissenschaftlichen Dimensionen. Es geht um Roland Barthes toten Autor und Michel Foucault. Das Hörspiel "Spell" ist ein Stück ganz feiner Dekonstruktion.
Ausschnitt "Spell"
"Urtext, Textur. Ich sehe schon. Die Anagramme lassen Dich nicht mehr los."
Was sich der Autor sicherlich aber auch so gewünscht hat. Stephan Krass ist unter anderem auch Professor für literarische Kunst in Karlsruhe.
Ausschnitt "Spell"
"Ein Doppelleben. Ich hab es geahnt."
Wenn Sie also mit dabei sein wollen, wenn Buchstaben zelebriert werden und nerdige Agenten Zahlen addieren. Spell läuft am 27.05 auf SWR2 um 22 Uhr 5 - danach dann natürlich auch zum Download.
Dann war da, wie bereits angekündigt, ein zweites Hörspiel, das mich ziemlich erschüttert hat. Und das, obwohl ich wusste, was auf mich zukommen würde. Mir war klar: Es geht um persönliche Aufzeichnungen, aus der Zeit des Nationalsozialismus. Eines der prominentesten Beispiele ist wahrscheinlich "Das Tagebuch der Anne Frank", das einige bereits in der Schule gelesen haben. Und zumindest mir geht es so: Diese persönlichen Dokumente treffen mich noch stärker in die Magengrube als es die historische Aufarbeitung der Nazi-Zeit ohnehin schon vermag.
Aber, so sehr ich vor dem Hörspiel: "Briefe aus der Hölle" zurückgeschreckt bin, so sehr hatte ich dann doch das Bedürfnis, es mir anzuhören. Vielleicht kennen einige unter Ihnen die Buchvorlage unter gleichem Namen, die 2019 erschienen ist. Der Historiker Pavel Polian hat in diesem Werk Tagebücher zusammengetragen und eingeordnet, die man vergraben in der Erde eines Konzentrationslagers gefunden hat. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz.
Ausschnitt "Briefe aus der Hölle"
"An den Finder. Komm her zu mir, Du freier Mensch, der das Glück hatte, nicht in die Hände dieser kultivierten, zweibeinigen Tiere geraten zu sein. Ich erzähle Dir, mit welchen raffinierten, sadistischen Methoden sie Millionen von Menschen eines einsamen, hilfslosen Volkes, des Volkes Israel, das von niemandem Hilfe bekommen hat, zugrunde gerichtet haben. Komm. Komm jetzt. Solange die Vernichtung noch auf vollen Touren läuft. Komm jetzt. Solange die Vernichtung mit allem Eifer herrscht. Komm jetzt, solange der Todesengel sich an seiner Macht berauscht. Komm jetzt, solange in den Öfen noch das Feuer wütet. Komm. Stell Dich hier hin. Warte nicht darauf, bis die Flut vorbei gerauscht ist, die Finsternis sich verflüchtigt hat und die Sonne wieder scheint. Sonst wirst Du vor Verwunderung erstarren, Deinen Augen nicht trauen. Wer weiß schon, ob mit der Flut auch diejenigen verschwinden, die deren lebendige Zeugen sein, und deren Wahrheit berichten könnten. Salmen Gradowski, geboren zwischen 1908 und 1910 in Suwalki Polen. Später Büroangestellter in L. an der Memel. Ermordet in Auschwitz-Birkenau."
Diese Aufzeichnungen hat man in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg ausgegraben und zum Teil aufgrund des schlechten Zustandes erst spät entziffern können. Das waren Dokumente, versteckt in z.B. Thermosflaschen. Behelfsmäßig mit Wachs verschlossen, vergraben in der Nähe der Krematorien. Teilweise waren sie unleserlich. Man konnte sie dann aber mit moderner Technologie wieder lesbar machen. Zuletzt die Notizen von Marcel Nadjari, erst 2017.
Ausschnitt "Briefe aus der Hölle"
"An meinen Augen sind etwa 600.000 Juden aus Ungarn vorbeigezogen. Und dazu noch Franzosen. Polen aus Litzmannstadt. Ungefähr 80.000. Und jetzt zuletzt trafen erstmals 10.000 Juden aus Theresienstadt ein."
"Marcel Nadjari, geboren in Thessaloniki, Griechenland. Besitzer eines Ladens für Tierfutter. Später Soldat, dann Mitinhaber einer Seifensiederei. Half Juden bei der Flucht, nach Palästina auszuwandern. Nach der Befreiung emigrierte er nach New York. Er starb als einziger Überlebender des Sonderkommandos, deren Aufzeichungen gefunden wurden"
Das Sonderkommando bestand zeitweise aus über 800 inhaftierten Juden, die von den Nazis dazu gezwungen worden waren, Arbeiten zu übernehmen, von denen man wusste, dass sie psychisch große Spuren hinterlassen würden. Nämlich die Aufgabe, die Menschen in die Gaskammern zu führen und nach ihrer Ermordung wieder zu bergen, ihre Wert-Gegenstände einzusammeln und die Leichen dann zu verbrennen. Unter anderem geht es dem Autor auch darum, mit diesem Werk nochmals den Anschuldigungen zu begegnen, es könne sich bei diesen KZ-Insassen um willige Kollaborateure gehandelt haben. Opfer zu Tätern machen: Eine letzte Grausamkeit der Nazis, die sogar lange nach dem Ende des Krieges noch funktioniert habe.
Ausschnitt "Briefe aus der Hölle"
"Fürchte Dich vor diesem weiten und schrecklichen Wege nicht. Fürchte Dich nicht vor den Bildern des Grauens, der Bestialität, die Du wirst sehen müssen. Habe keine Angst, ich zeige Dir alles. Der Reihe nach. Du wirst Deine Augen nicht abwenden können von dem, was Du sehen wirst. Dein Herz wird stumpf. Deine Ohren werden taub werden. Du wirst der von Menschen bewohnten Welt entfliehen und inmitten wilder Tiere Trost suchen, nur um Dich nicht bei den kultivierten Höllenfürsten aufhalten zu müssen. Denn selbst einem Tier setzt die Kultur Grenzen. Seine Krallen werden weniger scharf, es selbst wird weniger grausam. Umgekehrt verhält es sich beim Menschen, wenn er sich zum Tier wandelt. So wird er umso grausamer, je mehr Kultur er hat. Je mehr Zivilisation, umso mehr Barbarisches ist in ihm. Je höher seine Entwicklung, desto entsetzlicher seine Taten."
Man steht ohnmächtig vor diesen vorgetragenen Worten und hört zu. Eine akustisch minimalistische Inszenierung von Andreas Weiser. Die Stimmen, die Geräusche. Und natürlich die Musik, die Emotionen unterlegen und illustrieren soll, und irgendwann selbst nur noch ohnmächtig dasteht und verstummt. Ich habe zum Zwecke dieser Kritik vom Hessischen Rundfunk freundlicherweise eine der ersten, fertig geschnittenen Versionen des Hörspiels vorab erhalten. Andreas Weiser schreibt dazu an mich und seine Redaktion:
Zitat Andreas Weiser:
"[…] Die letzte 1/4 Stunde mit all den Abschiedsbriefen habe ich bewusst mit keiner Musik […] mehr (außer dem Kratzgeräusch) unterlegt. Ich hatte das Gefühl, da passt einfach nichts mehr hin, außer diesem Kratzen eben."
"Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz". Das Hörspiel läuft am 09. Mai auf hr2. Danach ebenfalls online zum Download in der ARD Audiothek.