Pop-Hörspiel von Schorsch Kamerun

Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt

Der Musiker, Autor und Regisseur Schorsch Kamerun.
Der Musiker, Autor und Regisseur Schorsch Kamerun. © imago images/POP-EYE
Von Schorsch Kamerun · 21.04.2022
Das preisgekrönte Hörstück geht ins Detail und wählt ein pointilistisches Erzählen als biografische Methode. Ein Versuch über die Frage, ob wir nach eigenen Wünschen handeln – oder ob wir ausschließlich auf Angebote reagieren.

Einen Schritt vortreten. Vor das Bild. Vor die Kulisse. Etwas lauter sein müssen, aber allein. Selbstdarstellung – ohne Publikum. Entregelt. Absaufen in Details.
Schorsch Kamerun lässt Menschen auftreten, die eine dunkle Kammer in ihrem Leben öffnen. Er will herausfinden, ob wir „eigene“ Wünsche entwickeln oder ob wir nur auf Angebote reagieren. Ob die Weißgesichtigkeit um uns herum doch nur Fassade ist, unter der sich echte Profile verstecken. Ein Spiegel der Lebens- und Arbeitswelt, die mit ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen und Sozialbedingungen moderne Menschen zu unglücklich Suchenden werden lässt.
Solchen, wie dem jungen Mann, der seit der Trennung von seiner Freundin einen Zähltick hat und immer neunmal spülen muss auf der Toilette, auch nachts. Wie der Frau, deren Blumen besser gedeihen, wenn sie selbst nicht zu Hause ist. Oder dem Kommunalpolitiker, der eine renitente Riesenschildkröte auf Galapagos als Vorbild für sein Denken und Planen erwählt hat. Sie alle gewähren bestürzende Einblicke, erlauben beunruhigende Vergleiche, die durch Songs von Schorsch Kamerun noch beschleunigt werden. Und jeden Moment glaubt man als Hörerin, sich selbst zu erkennen – aus scheinbar sicherer Distanz.
Schorsch Kamerun, Gründungsmitglied und Sänger der Punkband „Die Goldenen Zitronen“, Theaterregisseur und -autor (2018)
Schorsch Kamerun, Gründungsmitglied und Sänger der Punkband „Die Goldenen Zitronen“, Theaterregisseur und -autor (2018)© picture alliance/dpa/Ina Fassbender
Jurybegründung zum Hörspielpreis der Kriegsblinden 2007:
„Kamerun zeichnet das bestürzende Porträt einer Generation, die zwischen Mediengeschwätz, Lifestylemode und Kaufwelt, zwischen verordneter Wahlfreiheit und allgemeiner Beliebigkeit keine Chance auf ein originales Leben, auf authentische Wünsche hat. Kameruns Menschen leben in einer indirekten Welt, zugeschüttet mit einem Übermaß an Null-Information. Sprechen sie, zitieren sie? Ist das Plattheit oder Ironie? Und wo sind wir überhaupt? In der Wirklichkeit, im Fernsehen, in einer Talkshow, im Gespräch, in der Satire?
Kamerun lässt das offen, lässt das Publikum teilhaben an der Desorientierung seiner Figuren. Sie drehen sich im Kreis, zwischen Praktika und Projekten, zwischen Leerlauf und Wiederholung. Dazwischen leuchtet wilde Wut auf, ohnmächtige Angst, ziellose Sehnsucht. Protest wird nicht gehört, geht unter im allgemeinen Medienbrei. Hoffnung findet nur vorgefertigte Wege.
In bruchstückhaften Zitaten wird an eine Zeit erinnert, in der Aufklärung und Kunst Werte vorgaben. Heute ist Verweigerung der höchste Wert. Und von den Gedanken der Aufklärung bleibt die Erkenntnis, dass man einen Gedanken eben nicht zu Ende denken kann. Kamerun inszeniert das mit bestem Gebrauch radiophoner Mittel.
Musik und Atmosphäre geben das Thema vor, ein auswegloses Kreisen in Wiederholungen, mit winzigsten Variationen, mit seltenen Ausbrüchen von intensiver Heftigkeit. In Sprache und Musik sind sehr sorgfältig Kontraste montiert, die sich gegenseitig mattsetzen. Er arbeitet mit Groteske und Komik – aber wenn man lacht, ist man zugleich tief entsetzt. Dieses irritierende Stück Gesellschaftskritik überzeugte in der Radikalität der Aussage und dem souveränen Gebrauch des Mediums Radio.“

Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt
Von Schorsch Kamerun
Regie und Komposition: der Autor
Mit: Fabian Hinrichs, Mila Dargies, Daniel Lommatzsch, Susanne Jansen, Lena Hiebel, Tama Pollak und Thomas Sehl
Ton: Stefan Thomas
Produktion: WDR 2006
Länge: 53'23

Schorsch Kamerun, geboren 1963 in Timmendorfer Strand, ist Gründungsmitglied und Sänger der Hamburger Punkband „Die Goldenen Zitronen“. Zusammen mit Rocko Schamoni gründete er den Hamburger „Golden Pudel Club“. Seit 2000 arbeitet er als Theaterregisseur und -autor an renommierten deutschsprachigen Theatern. Schorsch Kamerun hatte 2010/2011 eine Gastprofessur an der Akademie der Bildenden Künste in München inne, 2016 erschien sein Debütroman „Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens“. Zuletzt fürs Radio: „Kreiskolbenmotorhase“ (WDR 2017) und „M – Eine Stadt sucht einen Mörder (Wer hat Angst vor was eigentlich?)“ (BR 2020).

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