Ein Essay zur gegenwärtigen Krise

Leben in Watte gepackt

29:56 Minuten
Olga Grjasnowa
Olga Grjasnowa © René Fietzek
Von Olga Grjasnowa  · 19.04.2020
Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa blickt auf die gegenwärtige Zeit. Ein literarisches Essay darüber, dass uns der Abstand von 1,5 Metern zu unserem Gegenüber nicht retten wird, dass uns vermutlich niemand retten wird.
Wie schnell Veränderungen möglich sind, wie wir in kürzester Zeit inne halten können, das zeigt die gegenwärtige Coronakrise. Das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Deutschland ist in weiten Teilen zum Erliegen gekommen. Von dieser gegenwärtigen, für Viele seltsam anmutenden Zeit, auf die mal uptoisches, mal dystopisches Potential projiziert wird, erzählt Olga Grjasnowas Essay.
"Am 16. März 2020 wurden in fast allen deutschen Bundesländern Kindergärten, Schulen, Bordelle und Kneipen geschlossen. Veranstaltungen mit einer Teilnehmerzahl von über 50 Menschen wurden verboten. Nur wenige Tage später folgten weitgehende Kontaktbeschränkungen. Sportanlagen, Einkaufszentren und alle Läden, außer Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und Drogerien wurden ebenfalls geschlossen. Spielplatzschließungen folgten, wobei mein kinderloser Nachbar zum Abschied noch eine Runde alleine Schaukeln war. Dann kam die Anweisung sich nur noch zu zweit im Freien aufzuhalten. Seitdem sitzen wir zu Hause und versuchen uns nicht gegenseitig umzubringen. Die ersten Tage waren schön, das Wetter frühlingshaft, die Sonne schien. Am 30. März fiel Schnee.
Als die Ausgangsbeschränkung kam, dachte ich nur: Bitte nicht schon wieder. Ich wurde 1984 in Aserbaidschan geboren worden. Meine Kindheit fiel zusammen mit der Zeit der Pogrome, des Krieges, der Hyperinflation, der politischen Anarchie, des Zusammenbruchs aller staatlichen Strukturen und auch des Hungers – zumindest für einen nicht unbedeutenden Teil der Bevölkerung. Auf die Straße ging während dieser Jahre kaum jemand, wenn auch aus völlig anderen Gründen, als jetzt. Dennoch überwog in mir augenblicklich ein völlig anderes, lähmendes Gefühl: Die Unlust auf das ‚Schon-Wieder‘."
"Damals glaubte ich an eine glückliche und frohe Zukunft, reich an erfüllten Wünschen, an gemeinsamen Erfahrungen und Unternehmungen. Und doch war jene Zeit die beste meines Lebens, und erst jetzt, da sie mir für immer entschwunden ist, erst jetzt weiß ich es" (Natalia Ginzburg)

Leben in Watte gepackt
Ein Essay
Von: Olga Grjasnowa
Mit: Eva Mayer und Till Firit
Regie: Till Firit
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2020
Länge: 29'50

Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Nach ihrem Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig gelang Olga Grjasnowa mit ihrem Debüt "Der Russe ist einer, der Birken liebt" der literarische Durchbruch. Zuletzt erschien ihr Roman "Gott ist nicht schüchtern".