Die Auswirkung von Hörspielen auf die Wirklichkeit

Mythos Massenpanik

10:53 Minuten
Orson Welles bei der Aufnahme zum Hörspiel "War of the Worlds" am 30.10.1938 in New York
Orson Welles bei der Aufnahme zum Hörspiel „Krieg der Welten“ am 30.10.1938 in New York © picture alliance / dpa
Von Martin Stengel  · 03.11.2020
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Lassen sich Menschen durch Hörspiele in blanker Panik aus den eigenen vier Wänden treiben? In der Vergangenheit haben dies jedenfalls einige Radiomacher versucht. Martin Stengel hat sich auf eine Zeitreise begeben, um herauszufinden, was dran ist, am Mythos Hörspiel-Massenpanik.
Ausschnitt Ansage "Krieg der Welten"
"Ladies and gentlemen, we interrupt our program of dance music to bring you a special bulletin from the Intercontinental Radio News. At twenty minutes before eight, central time, Professor Farrell of the Mount Jennings Observatory, Chicago, Illinois, reports observing several explosions of incandescent gas, occurring at regular intervals on the planet Mars."
Übersetzung: "Meine Damen und Herren, um zwanzig Minuten vor acht beobachtete das Mount Jennings Observatorium in Chicago, Illinois, mehrere Explosionen auf dem Mars."
Mit diesen Worten eines Programmsprechers sollte der gerade erst 23-jährige Orson Welles am Vorabend von Halloween, dem 30. Oktober 1938, im Studio des "Mercury Theaters On The Air" in New York City Geschichte schreiben.
Auf dem Programm des Senders CBS stand das Hörspiel "Der Krieg der Welten" nach dem Roman von H.G. Wells. Durch Unterbrechungen des angeblich regulären Programms erfuhren die Zuhörer nach und nach, dass Außerirdische den Nordosten Amerikas angriffen. Ihre Hitzestrahlen töteten jeden auf ihrem Weg. Liveschalten an die Front und inszenierte Interviews sollten die Zuhörerinnen und Zuhörer glauben machen, ihr Land wäre tatsächlich in Gefahr. Vor allem, wer erst später eingeschaltet hatte, hatte den Hinweis zu Beginn nicht mitbekommen, dass es sich um Science-Fiction handelte.
Das Hörspiel war laut Presse ein voller Erfolg: Es ließ angeblich so viele Menschen glauben, es handele sich um einen realen Bericht, dass die New York Times einen Tag später titelte: "Radio Listeners in Panic, Taking War Drama as Fact." Verängstigte Zuhörer hätten das Telefonnetz überlastet oder seien zu tausenden aus ihren Häusern und Wohnungen geflohen, konnte man dort lesen.
Zahlreiche Zeitungen im ganzen Land berichteten ebenfalls über eine Massenpanik und legten so den Grundstein für den Mythos, der sich bis heute hält.
Im Jahr 1940 befragten dann der Psychologe Hadley Cantril und sein Team Menschen, die zwei Jahre zuvor zugehört hatten. Seine Studie wird noch heute gelegentlich als Beleg für die Massenpanik angeführt. Sie ist die einzige wissenschaftliche Arbeit aus dieser Zeit, die sich mit den damaligen Reaktionen beschäftigt. Der Kommunikationswissenschaftler Martin Herbers von der Zeppelin Universität in Friedrichshafen findet die Forschungsergebnisse allerdings problematisch.
Martin Herbers: "Vielleicht eine der zentralen Kritikpunkte ist auf jeden Fall die theoretische Basis, die es so gut wie gar nicht gibt. Die Studie möchte eben das Phänomen der Panik untersuchen, sagt aber an fast keiner Stelle aus, was es unter Panik zu verstehen gibt. Es gibt keinen Forschungsstand, es gibt keine Theorie der Panik. Es gibt auch keine große Idee, wie jetzt Medien Panik verursachen könnten."
Außerdem seien für die Sendung keine Einschaltquoten erhoben worden, gibt Herbers zu bedenken. Niemand wusste, wie viele überhaupt zugehört hatten und somit maximal in Panik hätten verfallen können. Hochrechnungen sollten diese Leerstelle füllen, doch waren sie recht ungenau: Zwischen 1,2 und sechs Millionen hatten dem "Krieg der Welten" demnach zugehört. Für die Studie wurden aber lediglich 135 Hörerinnen und Hörer befragt.
Martin Herbers: "Und von denjenigen Menschen, die man dann befragt hat, ob sie dann tatsächlich in Panik verfallen sind, als sie dann dieses Hörspiel gehört haben, muss man auch sagen, dass die Frage, mit der quasi diese Panikreaktion abgefragt worden ist, eigentlich gar nicht nach Panik gefragt hat, sondern man hat die Menschen eigentlich befragt: Haben Sie das Hörspiel als Hörspiel erkannt. Und von den 30 Prozent, die das dann eben nicht als Fiktion erkannt haben, da war dann die Anschlussfrage, wie sie darauf reagiert haben. Und die Antwort, die der Fragebogen vorgegeben hatte, war "excited". Und zwischen "excited" und "panicked" ist immer noch ein großer Unterschied."
Und dennoch hat die Arbeit Eingang gefunden in den wissenschaftlichen Diskurs, sagt Martin Herbers.
Die Berichterstattung in den Zeitungen legte den Grundstein für einen Mythos, der durch die Studie von Hadley Cantril anschließend wissenschaftlich legitimiert wurde. Auch Orson Welles tat in späteren Jahren sein Übriges und beförderte die Erzählung über sein Hörspiel weiter – schließlich hatte sie seiner Karriere einen gehörigen Schub gegeben. Aus dem Mythos der Massenpanik wurde nach und nach eine akzeptierte Tatsache, die erst in den letzten beiden Jahrzehnten hinterfragt wurde.
Einen ganz eigenen Zugang zu den Fakten fand der Historiker A. Brad Schwartz, als er auf rund 2100 Briefe aufmerksam wurde, welche die Zuhörer direkt nach der Sendung an den Sender CBS und den Autor Orson Welles geschickt hatten.
A. Brad Schwartz: "I didn’t know what was in there but I knew that there must be some sort of stories to be found and then when I got into it, when I actually started reading the letters - discovering that so much of what I thought and knew about the broadcast was wrong. And that in fact the story of this radio show ended up being a great warning about media in our present age. I very quickly began to see the majority of the letters in fact were from people who were frightened by the idea that so many of their fellow countrymen could believe something that is so ridiculous. We tend to believe that everyone else is much more gullible than we are. And I know from reading people‘s letters that it confirmed a lot on their minds, their opinion of their fellow men in the United states. You know this is happening in late october - people saying things like it shakes one‘s faith in democracy to think these people are going to be voting in a week. It plays into this ongoing fears that were prominent in 1938 and still exist today about how democracy can survive in the mass media. But at the end of the day it is based on this false premise of a mass panic that was never really questioned as soon as it was reported at the time."
Voice Over: "Ich wusste nicht, was mich erwartete, aber ich wusste, dass es da Geschichten zu entdecken gab. Ich erkannte schnell, dass so viel von dem, was ich über die Sendung zu wissen glaubte, falsch war und dass die Geschichte dieser Radiosendung eher eine Warnung vor den Medien unserer heutigen Zeit war. Die meisten Briefe stammten von Menschen, die bestürzt darüber waren, dass so viele ihrer Landsleute etwas so Lächerliches glauben konnten. Wir denken, alle anderen seien viel leichtgläubiger als wir selbst. Durch die Briefe weiß ich, dass sich viele in ihrer Meinung über die Menschen in den USA bestärkt sahen. Das Ganze ist Ende Oktober passiert und die Leute schreiben, dass es ihren Glauben an die Demokratie erschüttert, dass diese Menschen in einer Woche wählen werden. Es verstärkte die Befürchtungen, die 1938 vorherrschten und auch heute noch bestehen: Wie kann Demokratie in Zeiten der Massenmedien überleben? Doch letztlich gründete das alles auf der falschen Prämisse einer Massenpanik, die nie wirklich in Frage gestellt wurde, nachdem sie erst einmal in der Welt war."
Obwohl die Erzählung über eine Massenpanik inzwischen ins Reich der Legenden befördert wurde, seien damals tatsächlich vereinzelt Menschen in Panik geraten. Jedoch hatten diese keine Angst vor Aliens, wie Brad Schwartz zu bedenken gibt.
Brad Schwartz: "Most people - as far as we can tell - who were frightened by the show did not understand it was about aliens. They thought it was some kind of foreign invasion or a natural disaster. They didn’t know what it was. But whatever they were most afraid of that filtered what they were hearing and in turn the theatre of the imagination let them to imagine what they were most afraid about."
Voice Over: "Die meisten Menschen, denen die Sendung Angst eingejagt hatte, hatten gar nicht verstanden, dass es um Aliens ging. Sie dachten an einen Angriff durch ein anderes Land oder eine Naturkatastrophe. Was auch immer ihre größte Angst war bestimmte, was sie hörten und beflügelte ihre Fantasie."
Es brauchte also nicht unbedingt Außerirdische, um die Hörer zu ängstigen. Das zeigte bereits eine Sendung der BBC im Jahr 1926. In Ronald Knox’ Satire "Broadcasting the Barricades" ging die Gefahr von einer ganz irdischen Bedrohung aus: von revoltierenden Arbeitern, die London verwüsteten. Trockener Nachrichtensprech unterbrach das Musikprogramm und schilderte die Ereignisse mit einer gehörigen Prise schwarzen Humors.
Auch in diesem Fall überhöhte die Presse die Reaktionen des Publikums zur Panik, die so nie stattgefunden hatte. Berichte erreichten sogar die USA und lieferten schließlich die Inspiration für Orson Welles, wie dessen Producer, John Houseman, später in einem Interview anmerkte.
Die Macher eines Stücks der Armed Forces Radio Station Tokyo versetzten 1947 tausende der dort stationierten Amerikaner und Briten in Angst und Schrecken, wie die New York Times damals schrieb. Von Panik war allerdings keine Rede. Die Sendung berichtete davon, dass Truppen in Tokyo gegen ein sechs Meter großes Seeungeheuer kämpften. Zahlreiche Anrufe gingen im Sender ein, darunter auch der des hochdekorierten Generals Douglas MacArthur. Der Aufruhr führte dazu, dass fünf Radiomitarbeiter ihren Job verloren, weil sie die Sendung nicht mit ihren Vorgesetzten abgestimmt hatten.
Mit ihrem Leben bezahlten hingegen sechs Mitarbeiter bei Radio Quito in Ecuador im Jahr 1949 ihre Neuauflage des Hörspiels "Krieg der Welten". Sie hatten die Adaption so gut an lokale Gegebenheiten angepasst, dass zahlreiche Zuhörer von einem Angriff überzeugt waren. Als der Schwindel aufflog, schlug die Angst in Wut um und das Rundfunkgebäude ging in Flammen auf.
Ein weiteres Beispiel führt im Jahr 1973 nach Schweden. Nach einem Unfall im Kernkraftwerk Barsebäck sei eine radioaktive Wolke auf dem Weg nach Kopenhagen, wurde damals berichtet. Knapp die Hälfte der Hörer sei laut einer Studie auf die Sendung reingefallen. Die Umfrage unter 1000 Schweden kam jedoch zum Schluss, dass auch hier keine Panik ausgebrochen war.
Ein Jahr später versuchten dann WDR und NDR mit dem Hörspiel "Der Zwischenfall" ihre Hörer zu ängstigen. Nach dem bekannten Muster unterbrach ein bekannter Radiomoderator, hier Wolf Dieter Ruppel, das laufende Programm mit einer spektakulären Sondernachricht.
Ausschnitt Hörspiel "Der Zwischenfall":
"Meine Damen und Herren, vor wenigen Augenblicken erreichte uns hier im Kölner Funkhaus die erste Nachricht von einer drohenden Katastrophe. Einer Katastrophe wohl in allernächster Nachbarschaft, denn von einem Einsturz, wenigstens Teileinsturz des Kölner Doms war schon die Rede. Hier im Haus schwirren momentan die Nachrichten durcheinander. Unsere eigene Nachrichtenredaktion ist im Augenblick auch nicht besser informiert."
Es folgte eine Liveschalte auf den Platz vor dem Dom und zahlreiche Telefongespräche mit Experten. Ursache für den Einsturz seien Abgase, die den Stein des Doms auflösten. Ein ganz reales Problem – allerdings satirisch überhöht. Doch von panischen Schaulustigen auf der Domplatte keine Spur. Dafür liefen die Telefonleitungen heiß. Die Sender hatten so etwas wohl geahnt, denn die angebliche Sondersendung endete wie folgt:
Ausschnitt Hörspiel "Der Zwischenfall":
"Verehrte Hörer. Wir erklären Sicherheitshalber, dass dem Kölner Dom nichts passiert ist. Betonen aber auch, dass unsere Sendung im Übrigen auf Tatsachen aufbaute. Der angebliche Zwischenfall ist also eine Folgerung aus den wahren Verhältnissen. Dies zur Warnung für alle, die es angeht.