Hand an sich legen oder Das Tabu der Todessehnsucht
"Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen." Ein Satz von Wittgenstein, den Jean Améry seinem Essay "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod" vorangestellt hat. 1978 nahm sich der KZ-Überlebende Améry das Leben. Unsere auf Glück und Erfolg versessene Gesellschaft mit all ihren Vitalitätssymbolen läßt kurz vor der Jahrtausendwende vergessen, daß sie auch eine sterbensmüde Zivilisation ist, die ihrer Probleme kaum noch Herr wird und zwanghaft ihre Ängste verdrängt. "Alles ist machbar" - verspricht die Werbung, während im Alltagsbewußtsein vieler Menschen längst eine andere, dunklere Melodie dominiert: "Nichts geht mehr". Zwar wird der Selbstmörder nicht mehr verdammt wie im katholischen Mittelalter, aber er gilt als Schwächling, nicht "normal" oder gar als sozialer Deserteur. Als Saboteur aller gültigen kulturellen Normen und Übereinkünfte konfrontiert er uns mit unseren eigenen Denkverboten. Etwa: warum muß das Leben unbedingt bis zu seinem "natürlichen" Ende gelebt werden? Was bedeutet Freiheit, Würde, Selbstbestimmung? Und: gibt es in letzter Konsequenz ein Recht auf Selbsttötung?