Das Eigenleben erinnerter Bilder

Diktate

Lentz
Michael Lentz © dpa / picture alliance / Erwin Elsner
Von Michael Lentz · 15.10.2016
Was ist in dem Kästchen, das der Sohn nachts hinter seinem Regal hervorholt, in das zu schauen die Mutter ihm verboten hat und ihm prompt jede Nacht abnimmt, kaum dass er Anstalten macht, es zu öffnen? Der Sohn vermutet einen Schlüssel. Die Mutter fürchtet, der Sohn könne ein schlimmes Geheimnis entdecken. Es kommt der Tag des Jüngsten Gerichts.
Zur Verhandlung stehen neben dem Kästchen, das sich jede Nacht wieder einfindet, ein umfangreiches Notizbuch über all diese und andere merkwürdige Vorgänge und eine Kammer, die mit dem Kästchen in Verbindung stehen muss. Die Mutter behauptet, ihr Sohn wolle sie umbringen, die Kammer sei der Beweis, er bete dort Gott an und betreibe Mummenschanz; der Sohn behauptet, er wisse nichts von einer Kammer, sein Notizbuch sei der Beweis für seine Aufrichtigkeit. Die Kammer sei eine Werkstatt, wenn auch eine imaginäre, sagt die Mutter, ihr Sohn habe sie dort als schwebendes Gewand ohne Körper gemalt.
Für den Sohn hat die Mutter schlicht sein Zimmer nicht aufgeräumt. Also räumt der Sohn selbst sein Zimmer auf und entsorgt einen Heiligenschein, ein kleines betendes Kapuzenmännlein, einen Auferstandenen, den Heiligen Geist, zwei Schafsköpfe, einen Rest Rotwein und schimmelndes Brot. Die Schreibmaschine der Firma Ideal hat es ihm allerdings angetan. Und sie ist es wohl auch, die den toten Vater wieder herbei imaginiert, kann der Sohn ihn doch mit ihrer Hilfe überall hinprojizieren. Er hat jedoch die Rechnung ohne das Eigenleben der Bilder, die in der erinnerten Vorstellung nie identisch sind, und der Sprache gemacht, mit deren Hilfe er die Kursänderungen der Bilder nachvollziehen will.
Erinnerung und Wiederholung gehen zuweilen getrennte Wege und bringen jedes Mal neue Bilder hervor, manchmal mit nur kleinen, aber entscheidenden Differenzen, und so ist Vater einmal Bismarck, ein anderes Mal der eigene Opa, dann wieder der Sohn selbst.
Zu Gehör kommt eine sich unentwegt modifizierende Veranschaulichung, die nichts anderes als Sprache in Bewegung ist, eine leibhafte Bewegung der Bilder. Das Ganze hat sicherlich mit einem Schrank zu tun, in dem der Bruder in eine Art Unterwelt verschwunden ist, und einer Camera obscura, die sich neben Vaters Bett befunden haben soll. Das Bett jedenfalls befindet sich als Brücke über einem kleinen Bach im Freien, dahinter die Berge, in denen Mutter Ski fährt. Von der Brücke aus steht das Wasser mit jedem Blick still und spiegelt übergangslos die wunderlichsten Bilder und Szenen aus verschiedenen Zeiten. Memoria, ins Innere geht die Reise.
Erinnern heißt Veranschaulichen, das im Gedächtnis Bewahrte sich zu eigen machen als Gegenwart. Den großen Bach hat Gunnar Geisse anverwandelt als untergründigen Passionsfluss, der alles durchwirkt.
Regie: Michael Lentz
Komposition: Gunnar Geisse
Mit Michael Hirsch, Michael Lentz, Sophia Siebert

Produktion: BR 2016
Länge: 83'37

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