Hörspiel des Monats November 2021

Blume Wolke Vogel Fisch

Ein kleiner Vogel sitzt auf einem Ast mit Blumen.
Vielschichtig und scheinbar chaotisch fängt das Hörspiel mit dem schönen Titel „Blume Wolke Vogel Fisch“ an. Und bleibt dabei. © EyeEm / Ana Francisconi
Von Ruth Johanna Benrath · 05.02.2022
Demenz, so die Autorin, kann man als Angriff auf das kollektive Bewusstsein verstehen; durch die Auslöschung der individuellen Erinnerungen verarmt auch das gemeinsame Gedächtnis. So steht in Ruth Johanna Benraths Text auch Herr B. zwischen den Zeiten. Sein Alltag im Heim ist ein immerwährendes Ringen um Orientierung.
Alltagswahrnehmungen durchfärben sich mit Kriegserinnerungen; die letzten Tage im "Volkssturm", das Geräusch des Gewehrs 43 überlagern sich mit vorchristlichen Gottesvorstellungen. Ich bin die leere Mitte Gottes, sagt Herr B., Sohn eines Pfarrers, immer wieder. Die Verständnisebenen mäandern. Nur eines scheint sicher: Draußen wartet das Kind auf ihn. Alles ist daran zu setzen, zu ihm zu gelangen. Doch gibt es das Kind wirklich - und wenn ja, kann Herr B. dessen Wirklichkeit verstehen?

Das Hörspiel wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zum Hörspiel des Monats November 2021 gekürt.
Die Begründung der Jury:
Der Klang eines präparierten Musikinstrumentes mit einem beschwingten und leicht drängenden Rhythmus und die sonore, angenehm alte Stimme von Herrn B., die scheinbar vor sich hin fantasiert, sind gleich zu Beginn eine offene Einladung, in diese Geschichte einzusteigen. Plötzlich der nüchterne Bericht einer kurzen Szene aus dem Pflegeheim. Ein Satz. Mal zwei. Der Bewohner des Heimes ist ungehalten und will wieder mal nicht nach den Regeln spielen. Dann ein Märchen. Es knistert und rauscht. Seine innere Stimme folgt sogleich. So vielschichtig und scheinbar chaotisch fängt das Hörspiel mit dem schönen Titel „Blume Wolke Vogel Fisch“ an. Und bleibt dabei. Verloren fühlt man sich aber nicht, eher aufgehoben. Abgeholt von den fein ziselierten Klängen der Musik, der klangvollen Stimme der Hauptfigur. Dem Schnittrhythmus der Szenen. Den Wiederholungen der Schauplätze, die man wieder erkennt, die man erinnert. Mit ihnen weitergeht. Der Text von Ruth Johanna Benrath reiht und verwebt Geschichten und Ebenen in scheinbar zusammenhangloser Abfolge zu einer rau strukturierten Oberfläche. Die fühlt sich warm an. Der hört man gerne zu. Das ist auch der besonderen Musik von Janko Hanushevsky zu verdanken, der einem mit seinen Klängen und verspielt abstrahierten Kinderliedern die offene Hand entgegenstreckt. Die Struktur von Musik und Text, die sich mit der Stimme von Herrn B, gesprochen von Wolf-Dietrich Sprenger, mischt und reibt. Die klare Regie von Stefan Kanis und die Stimmen des Ensembles machen das Stück zu einer besonderen Stunde im freiem Assoziationsraum, mit subtilem Spaß und Tiefgang. „Pommerland ist abgebrannt“.

Blume Wolke Vogel Fisch
Von Ruth Johanna Benrath
Regie: Stefan Kanis
Mit Wolf Dietrich Sprenger, Bibiana Beglau, Paulina Bittner und Boris Aljinovic
Komposition: Janko Hanushevsky
Ton und Technik: Holger König und Christian Grund
Produktion: MDR 2021
Länge: 49‘12

Ruth Johanna Benrath, geboren 1966 in Heidelberg, schreibt Gedichte, Romane, Hörspiele und Theatertexte, konzipiert Audio-Walks und ist Teil des Text-und-Klang-Duos "Gezinkte Sterne". Sie promovierte nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte 2004 über das Selbstverständnis von Geschichtslehrkräften aus der DDR vor und nach 1989. Ihr Hörspiel "Geh Dicht Dichtig!" wurde von der Jury der DADK zum "Hörspiel des Jahres 2019" gewählt. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien.