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Die neuen Zeitzeugen

43:48 Minuten
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Im „Tagebuch der Gefühle“ halten die Jugendlichen ihre Gedanken und Gefühle zur Geschichte der europäischen Juden fest © Marius Elfering
Von Marius Elfering · 08.10.2021
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Wer erinnert an den Holocaust, nachdem die letzten Zeitzeugen gestorben sind? 36 Jugendliche aus Halle an der Saale haben dafür einen kreativen Ansatz: Gemeinsam erforschen sie die Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Europa. Ihre Gedanken halten sie im "Tagebuch der Gefühle" fest.
Über ein Jahr ist es her, dass Max Hirsch seinen besten Freund verloren hat. Kevin Schwarze starb beim Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale. Am 9. Oktober 2019 versuchte sich ein Rechtsextremist mit Waffengewalt Zugang zur Synagoge zu verschaffen, scheiterte und erschoss zwei Menschen auf offener Straße. Der 20-jährige Max Hirsch muss oft an den Tag denken, an dem sein Freund starb. Und trotzdem meidet er die Gegend um die Synagoge nicht, erzählt er, als er vor der Gedenktafel für die Opfer des Anschlags steht:
"Ich fühle mich hier allgemein näher, weil ich bin hier in der schönsten Stadt der Welt. Ich ziehe mich meistens immer zurück, aber meine Eltern verstehen mich deswegen, und ich rede eigentlich nicht so viel über Kevin."
Max Hirsch steht vor einer Gedenktafel die an jüdische Bürger, die den 2. Weltkrieg nicht überlebten, erinnert.
Seit dem Anschlag in Halle, bei dem sein bester Freund starb, engagiert sich auch Max Hirsch gegen Antisemitismus© Marius Elfering
Seit dem Anschlag engagiert sich Max Hirsch aber beim Projekt "Tagebuch der Gefühle": Insgesamt 36 Jugendliche aus sieben Bildungseinrichtungen recherchieren in ihrer Freizeit die Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Europa. Sie besuchen ehemalige Konzentrationslager, führen Interviews mit noch lebenden Zeugen und Zeuginnen der Schoah und recherchieren die Geschichten der Opfer des Nationalsozialismus.
"Man sieht, was man früher nicht gelernt hat in Geschichte", sagt Max Hirsch. Jetzt lerne er die Grauen des Nationalsozialismus erst richtig kennen, meint er.

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Andreas Dose hat das Projekt Anfang der 2000er-Jahre ins Leben gerufen. Er ist pädagogischer Mitarbeiter bei der Stiftung Bildung und Handwerk in Halle. Alles begann mit der Frage, die ein Jugendlicher ihm stellte: "Wann hat eigentlich der Adolf Hitler die Mauer in Deutschland gebaut?" Als Dose diese Frage hörte, wusste er, dass er etwas gegen das Unwissen der Jugendlichen unternehmen musste:
"Es liegt an uns als Pädagogen dann zu sagen: Mensch, jetzt raffe ich mich auf und versuche mit den Jugendlichen gemeinsam die Geschichte aufzurollen und das aufzuholen", sagt Dose.

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Also organisierte er eine Bildungsfahrt für benachteiligte Jugendliche und fuhr mit ihnen nach Polen. Gemeinsam besuchten sie das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz. Andreas Dose stellte den Jugendlichen nur eine Aufgabe: Sie sollten ihre Gefühle, die durch die neuen Erfahrungen und Erkenntnisse aufkamen, in einem kleinen Büchlein niederschreiben. Aus diesen Texten entstand 2012 der erste Teil des "Tagebuchs der Gefühle". Bis heute sind zwei weitere Teile dazugekommen, am vierten arbeitet die Gruppe momentan. In ihren Texten berichten die Jugendlichen von den Geschichten der im Nationalsozialismus getöteten Menschen, von ihren eigenen Eindrücken und ihrer Hoffnung auf eine Welt ohne Antisemitismus und Diskriminierung.
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Manchmal braucht Paul eine Pause von dem Leid

Mit dem Anschlag von Halle 2019 überkam die Jugendlichen plötzlich das Gefühl, die Geschichte habe sie eingeholt. Ihnen war klar, dass ihre Arbeit wichtiger war denn je. Gemeinsam produzierten sie ein Video, in dem sie sich gegen Antisemitismus positionieren. Im Film schauen Menschen in die Kameras ihrer Handys und sprechen hintereinander immer wieder diesen einen Satz: "Kein Platz für Antisemitismus."
Paul Fiedler ist für die Produktion dieses und weiterer Videos zuständig. Der 18-jährige Schüler, der momentan sein Abitur macht, sitzt im Wohnzimmer am Computer. In stundenlanger Arbeit dokumentiert er die Besuche der Gedenkstätten und ehemaliger Vernichtungslager, sichtet anschließend das Material und kürzt, schneidet und baut es zu kurzen Filmen zusammen. Auf 200 bis knapp 2.000 Aufrufe kommen die Videos online.
"Wenn ich dauerhaft damit konfrontiert bin, mit diesen Bildern, das strengt tatsächlich auch ziemlich an", sagt er. Manchmal brauche er dann eine Pause, bevor er weiterschneidet. Doch er ist davon überzeugt, dass es wichtig ist, auch anderen Jugendlichen einen Zugang zu diesem Thema zu eröffnen. Und zwar in ihrer ganz eigenen Sprache:
"Uns ist es wirklich wichtig, die Botschaft nach außen zu tragen: Gegen Hass, setzt euch ein, habt eine Meinung und vertretet die", meint Paul Fiedler.
Paul Fiedler sitzt an seinem Laptop und verarbeitet das gesammelte Filmmaterial. Er trägt einen weißen Pullover und schaut auf seinen Bildschirm.
Paul Fiedler kümmert sich darum, dass die Gedanken und Gefühle der Jugendlichen auch filmisch festgehalten und verbreitet werden© Marius Elfering

Erinnerung im digitalen Raum

Wie wichtig neue Formen der Erinnerungskultur sind, das weiß auch Thomas Weber. Er ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg und beschäftigt sich mit den verschiedenen Formen der medialen Erinnerung via Film, TikTok oder Instagram. Erinnerungskultur in sozialen Netzwerken sei wichtig, um Jugendliche überhaupt für die Vergangenheit zu interessieren. Parallel dazu sei aber auch die möglichst dauerhafte Dokumentation der Erinnerungen von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen des Holocausts essentiell, damit die Gesellschaft auch in vielen Jahren noch Zugriff auf die direkten Erlebnisse hat. Denn dass neue Formen der Erinnerungskultur die persönlichen Zeitzeugenberichte ersetzen können, daran glaubt Thomas Weber nicht: "Gleichwohl helfen mediale Darstellungen, sich überhaupt in die Welt der Erlebnisse der Zeugen wieder hineinzuversetzen", sagt er.
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Schon heute gebe es beispielsweise die Möglichkeit, abgefilmte Zeitzeugenberichte mit künstlicher Intelligenz zu verknüpfen, wie es die "Shoa Foundation" von Steven Spielberg getan hat. So können Museumsbesucher in einen Dialog mit den Zeitzeugen treten, ihnen Fragen stellen, auf welche diese antworten, auch wenn sie gar nicht mehr leben. Dabei müsse man natürlich darauf achten, dass man mit den Erinnerungen sorgsam umgehe. Gerade in Zeiten, in denen Informationen unseriöser Quellen im Internet gleichberechtig neben verbürgtem und geprüftem Wissen stehen: "Wir müssen jeder Generation beibringen, wie man kritisch mit Medien umgeht, wie man Quellen bewertet", meint Weber. Wenn dies gelinge, könne der verantwortungsvolle Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust auch über den Tod der direkt Betroffenen gelingen.
Erstsendedatum 5.3.2021
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